#Roman
#Debüt

Ich und Kehlmann

Christoph Salcher

// Rezension von Florian Dietmaier

Wie Sebastian Zöllner, der Protagonist von Daniel Kehlmanns Roman Ich und Kaminski (Suhrkamp, 2003), erwacht Kevin Fellner, der Protagonist von Christoph Salchers Debütroman Ich und Kehlmann, in einem Zug.

Für Sebastian ist das nach einem unbequemen Schlaf zwar mühsam, doch erkennt er sich gleich im Spiegel der Zugtoilette wieder. Kevin fällt das schwerer. „Ich erwachte“, heißt es im ersten Satz, „weit von mir selbst entfernt, so weit von mir selbst entfernt, dass ich mich nicht erinnern konnte, wer ich war.“ (S. 7)
Und dann ist auch noch die Glühbirne in der Toilette seines Zuges defekt. Im flackernden Licht muss er sich im Spiegel betrachten: „Das bin ich also, dachte ich.“ (S. 7) Wenige Seiten später versichert er sich erneut seiner selbst, aber mit einem entscheidenden Vorbehalt: „Noch war ich nicht der, der ich schon bald sein würde. Das musste ich mir immer wieder sagen. Ich bin noch nicht der, sagte ich, der ich dann sein werde.“ (S. 13)

Und wer wird Kevin dann sein? Wenn es nach ihm ginge, der, der Daniel Kehlmanns Platz im Literaturbetrieb einnehmen wird. Denn Kehlmanns Karriere ist in Kevins Sicht der Dinge, die unter anderem deshalb beeinträchtigt wird, weil er in der Zugtoilette auf seine Brille tritt und das linke Brillenglas verliert, am Ende: „Manche Experten sprachen bereits öffentlich von einer Krise in seinem Schaffen, vom Absturz, vom baldigen, endgültigen Niedergang.“ (S. 8) Kevin ist davon überzeugt, die Lücke füllen zu können, die unweigerlich nach Kehlmanns Niedergang entstehen würde. Und zwar mit seinem Roman Ich und Kehlmann, den er für „Weltliteratur“ hält.

Schon im Lehramtsstudium hat das angefangen, diese fixe Idee, Kehlmann zu ersetzen, in die er sich „immer mehr […] hineingesteigert und mich schließlich in sie verliebt [hatte], und zwar so sehr, bis sie zum Mittelpunkt meines alleinigen Interesses, zur Essenz meiner Existenz geworden war“ (S. 54).
Z
urück in seinem Zugabteil stellt Kevin sich etwa vor, Daniel Kehlmann sitze im selben Zug: „Ich bin Daniel Kehlmann, dachte ich erregt, in bin es, ich bin Daniel Kehlmann, ich bin es wirklich.“ (S. 15) Um wirklich der andere zu werden, so ist Kevin überzeugt, braucht er seinen Roman. Ohne sein Buch wäre er nichts, wäre „wie tot, wie niemals geboren“ (S. 20). Dem Buch hat er alles geopfert, hat sich abgekapselt, zurückgezogen und eingesperrt, „um woanders zu sein, um woandershin zu gelangen“ (S. 55). Auch seinen Beruf als Lehrer hat er „aufgegeben zugunsten einer viel größeren Idee“ (S. 55).

Aber das Buch ist noch nicht abgeschlossen. Dem Manuskript fehlt ein Ende, ein zwölftes Kapitel. Deshalb reist Kevin zur Buchmesse nach Frankfurt am Main, wo er Ich und Kehlmann an den Rowohlt Verlag verkaufen und den Roman fertig schreiben will, um Daniel Kehlmann abzulösen und berühmter als dieser zu werden. Dass der Verlag nichts von ihm wissen will, weil Kevins „aufdringliches Verhalten in den letzten Wochen, eigentlich Monaten“ (S. 36) Judith Thurner, die er für seine „Ansprechpartnerin bei Rowohlt“ (S. 25) hält, „über alle Maße geärgert“ hat, stört ihn nicht. Er ist sich einerseits sicher, dass der Roman gut ist und weiß, dass er sich andererseits beeilen und das Buch schnell veröffentlichen muss. Es „durfte keinesfalls erst nach [Kehlmanns] endgültigen Dahinscheiden erscheinen und freilich nicht zu weit davor. Für eine kurze Zeit würden wir beide im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stehen. Und dann nur noch ich“ (S. 8f.). Diesen Plan teilt er mit Kehlmanns Sebastian Zöllner: „Mein Buch durfte nicht vor [Kaminskis] Tod und nicht zu lange danach herauskommen, für kurze Zeit würde er im Mittelpunkt des Interesses stehen. Man würde mich ins Fernsehen einladen, ich würde über ihn sprechen […].“(S. 36)

Aber in dieser Gegenüberstellung wird gleichzeitig auch der größte Unterschied zwischen den beiden Protagonisten klar. Während Sebastian nämlich Kaminski nur wegen seiner Berühmtheit, seinem Namen schätzt, aus dem er Kapital schlagen will, indem er ‚über‘ Kaminski schreibt und spricht, will oder muss Kevin sich durch seine intensive, obsessive Beschäftigung mit Kehlmann ‚durch‘ diesen oder ‚mit‘ diesem sprechen und schreiben, um Ruhm zu erlangen.

Für diese Lesart, dass Kevin also ‚durch‘ oder ‚mit‘ Kehlmann sprechen will und in seiner Obsession aufgeht, gibt es bereits in der eingangs erwähnten Szene im Zug einige Belege. So fragt einer von Kevins Mitreisenden nach der Zeit. Kevin versteht die Frage zwar, kann sie aber nicht beantworten, weil es ihm so vorkommt, als sei er „irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ (S. 16) eingesperrt: „Ich fühlte mich auf unheimliche Weise in Kehlmanns Geschichten verstrickt, die allesamt nichts anderes als Plagiate waren.“ (S. 16f.)

Ein anderer Mitreisender scheint von besonderer Bedeutung: eine „sehr dürre Gestalt mit hohlen Wangen und spitzem Kinn“ (S. 11), die feine Lederschuhe, ein geschecktes Wams und Pluderhosen trägt. Genau wie Tyll in Daniel Kehlmanns gleichnamigen Roman. „[F]ast wie erfunden” (ebenda.), scheint Kevin die Gestalt im Zugabteil zu sein. Dass es Kehlmanns Tyll sein könnte, darauf kommt er auch dann nicht, als er ihm in der Lobby seines Hotels begegnet, ohne ihn zu erkennen, obwohl zwischen dem Verlassen des Zugabteils und dem Wiedersehen nicht viel Zeit vergangen sein kann. Vielleicht ist Kevin aber nur abgelenkt. Er hat nämlich erwartet, Judith Thurner in der Hotellobby zu treffen und einen Vertrag mit Rowohlt über Ich und Kehlmann zu unterschreiben. Stattdessen hat seine Ansprechpartnerin ihren Verlagskollegen Jürgen geschickt, der Kevin nicht nur ihren zuvor zitieren Ärger über sein aufdringliches Verhalten mitteilen lässt, weshalb sie nicht gekommen sei, sondern auch, dass Rowohlt seinen Roman nicht veröffentlichen wolle. Das kann Kevin nicht akzeptieren und als Jürgen gehen will, hält Kevin den Verlagsmitarbeiter fest, drückt ihn „tief in den roten Lederfauteuil zurück“ (S. 37). Das bemerkt ein anderer Hotelgast, der Kevin schon zuvor wegen seiner Augen aufgefallen war „blau, blendend, bedrohlich, zugleich scharf und beißend und giftig und gefährlich“ (S. 35) und seiner bunten Schellenkappe, wie sie auch Kehlmanns Tyll trägt, gegen seinen Willen und zum Gefallen des Kaisers, um dem Bild zu entsprechen, das dieser sich von ihm macht.

Warum bemerkt Kevin nicht die Gemeinsamkeiten des Herren in der Lobby mit der Gestalt aus dem Zug und vor allem mit Kehlmanns Tyll? Eine mögliche Antwort gibt er selbst: „Es fehlte mir aber die Zeit, um mir darüber noch länger Gedanken zu machen“ (S. 39), denn er muss Jürgen das Manuskript überreichen. Als dieser es aber nicht annehmen will, steckt er es dem Flüchtenden in den Rucksack. Kevins Roman „ist nun endlich auf direktem Wege zu Rowohlt, dachte ich, was für ein ausgesprochen schöner, wahrhaft tröstender Gedanke“ (S. 41).
Doch etwas stört ihn. Er setzt sich in Jürgens Fauteuil, kratzt sich am Kinn und greift nach den Nüssen in der Schale auf dem Tisch vor ihm, „gerade so, als wäre ich jetzt selbst diese ausgemergelte unheimliche Gestalt“ (S. 42). Er putzt das intakte rechte Brillenglas, setzt die Brille wieder auf. Sieht weder Gemeinsamkeiten zwischen Zug und Lobby aber auch weiter keine Unterschiede: „Ich war jetzt einer der drei Herren im Fauteuil. Bei diesem Gedanken lachte ich laut auf.
Ich bin jetzt einer der drei Herren, murmelte ich und lachte noch immer“ (ebenda).

Könnte Kevin recht haben, ist er zur Figur geworden oder bildet er sich all das nur ein? Will er Kehlmann vielleicht gar nicht ersetzen, sondern nur wie Leo Richter der Protagonist von Kehlmanns Geschichte Ein Beitrag zur Debatte, die mit acht anderen den Roman Ruhm bildet, den Kevin „so oft gelesen [hat] wie nichts anderes Gedrucktes in [seinem] Leben“ (S. 19) eine Figur in einem von Kehlmanns Büchern werden?

Das soll hier nicht beantwortet werden. Dass Christoph Salcher in seinem Debüt aber äußerst gekonnt und unterhaltsam mit Realität und Fiktion, mit Traum und Wirklichkeit zu spielen vermag, ist die große Stärke dieses Buches. Mit seiner anspielungsreichen Sprache, seinen klugen intertextuellen Verweisen und seinem zuweilen sehr dunklen Humor hält dieser Roman aber natürlich wie jedes gute Buch nicht nur eine Lesart bereit. Es lohnt sich, in Ich und Kehlmann lesend herauszufinden, wer Kevin Fellner war, ist und am Ende sein wird.


Florian Dietmaier
wurde 1985 in Graz geboren und hat dort ein Germanistikstudium abgeschlossen. Literarische Publikationen in der Zeitschrift manuskripte, Rezensionen u. a. in der
schreibkraft. manuskripte-Förderungspreis der Stadt Graz 2019. Im Frühjahr 2024 erscheint sein Romandebüt Die Kompromisse im Grazer Droschl Verlag.

Roman.
Wien: Milena, 2023.
220 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband.
ISBN 978-3-903460-14-0.

Verlagsseite mit Autorenkurzbiografie und Leseprobe

 

Rezension vom 04.12.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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