#Prosa

Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot

Josef Winkler

// Rezension von Walter Fanta

Hymnische Prosa

Niemand in der österreichischen Literatur kann dem Büchnerpreisträger Josef Winkler seit Natura morta (2001), seit Roppongi (2007) und erst recht seit seiner neuen hymnischen Prosa noch das Wasser reichen. Die neue poetische Erzählprosa Winklers lässt mich alten Winkler-Leser in neue Qualitäten eintauchen, ein Leseerlebnis der Wiederkehr und der Wiederholung ist das neue Winkler-Lesen paradoxerweise, Wiedererinnerung an Gelesenes, als ob Winkler stets vom Gleichen schreiben würde.

Er tut es und er tut es nicht. Der Urreiz sämtlicher Winklertexte liegt in der ‚Poetisierung exotischer Unmittelbarkeit‘. Ich darf das erklären: Immer – seit seiner Trilogie Das wilde Kärnten – war Winklers Prosa von der autobiographischen Erfahrung der Kärntner Grenze gespeist, von der Kindheit und Jugend an der Peripherie, im geografischen, sozialen und mentalen Sinn. Das wilde Kärnten ist eine exotische Welt, die Kindheitserlebnisse Josef Winklers sind Grenzerlebnisse. (Die ganze deutschsprachige Literatur lebt davon, dass große Autoren wie Grass, Bachmann oder Handke ihre Primärsozialisation an der exotischen Grenze des Sprachgebiets in die Ödlandschaften des Zentrums tragen.) Winkler entwickelt seine Kindheitsthemen Schritt für Schritt weiter, er trägt sie in neue Sphären. Die Kärntner Exotik erfährt in jeder Wiederholung ihrer erzählerischen Ausbreitung einen Zugewinn an poetischer Tiefe und sie tritt in neue Verbindungen mit globaler Exotik (Sizilien, Rom, Indien, Mexiko) des Weltreisenden Winkler.

In den neuen Büchern, besonders im letzten, wird die autobiographische Spur des Erzählens davon, was das ‚Ich‘ mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört und dem eigenen Körper erlebt hat, ergänzt um die neue Spur der Intertextualität, literarisch, filmisch. Alle Bücher Winklers gemeinsam bieten einen einzigen außergewöhnlichen Entwicklungsroman: sie zeichnen den Weg vom ‚reinen Tor‘, dem Bauernbuben, dem Autodidakten, zum belesenen Schriftsteller, der in seinen Texten mit seiner Belesenheit in der Weltliteratur verliebt spielt, den Werdegang zum Poetik-Professor, die Verwandlung zum poeta doctus. Dieser erstaunliche Weg ist noch nirgends so schön dokumentiert wie in Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot. In diesem Buch sind die beiden Welten perfekt miteinander verschränkt, die Welt der Unmittelbarkeit des Selbsterlebten und Selbstbeobachteten und die Welt der Literatur und des Films.

Literatur und Film repräsentieren neben der autobiographischen Unmittelbarkeit die andere, die vermittelte, die künstliche und künstlerische Realität. In die ganze Erzählung, die eigentlich, wie schon Roppongi, wie alle neueren Winkler-Bücher, eine Reiseerzählung ist, die uns nach Mexico und wieder nach Indien führt, sind Bezüge zu Büchern, die das ‚Ich‘ gelesen hat und zu Filmen, die das ‚Ich‘ gesehen hat, eingeflochten. Bücher und Filme legen die Abschnitte des Buchs fest: H.C. Artmann, Peter Handke, Ella Maillart bzw. Annemarie Schwarzenbach, Alois Hotschnig, Alfred Döblin, Jane Austen, Terézia Mora, Jürgen Lagger, Samuel Beckett, Gerald Zorsch, Abbas Kiarostami, Hans Henny Jahn, Paul Nizon, Yasunari Kawabata, Ingeborg Bachmann und Julien Green. Das erzählende Ich verwandelt sich in einen „Filmkameraknopf“ und führt Leserin und Leser in einen „Sternhagel der Bilder“ (121) – Sehnsucht von Valeska Grisebach, Der Untergang des Hauses Usher von Jean Epstein, Der Mieter von Roman Polanski, Accatone, Ragazzi di vita, Mamma Roma und Erotische Geschichten aus 1001 Nacht von Pier Paolo Pasolini und Kurz davor ist es passiert von Anja Salomonowitz.

Name-dropping ist kein Tick des Rezensenten, sondern ein Merkmal des Winklerschen Textes. Die Namen der Filme, der Autoren und Autorinnen, die Titel der Bücher spielen in Winklers Poetik eine entscheidende Rolle, ebenso wie die Namen der besuchten Orte, die Namen der Kinos in Villach, der Stadt der Jugend, die Namen der Straßen in Klagenfurt, dem heutigen Wohnsitz des Autors . Die hymnische Prosa bringt es fertig, die erfahrene und beobachtete Realität und die fremde, zugekaufte Realität der Filme und Bücher in sprachbildlichen Verfahren der Überblendung miteinander zu verschmelzen zu einem Buch, das in der Bildlichkeit seiner Sprache wie ein Film ist. In Winklers Prosa gibt es keine Fiktion, schon lange nicht mehr, eigentlich gab es sie dort nie. Jetzt rücken die Bilder aus dem Film und die Lektüren anstelle des von Winkler abgeschafften fiktionalen Erzählens ein und schaffen neben der Ebene des real Beobachteten und real Erlebten eine zweite, höhere Ebene.

Das große Thema in Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot ist das Sterben, das Opfer, der Opfertod, einmal mehr. Ein Leitmotiv der Sterbenspoesie und Poetik des Sterbens sind die „zwei Mädchen, die von der Psychiatrie im Landeskrankenhaus Klagenfurt Freigang bekommen hatten, Hand in Hand als violette Engel in die Tiefe stürzten und tot auf dem Asphalt aufklatschten“. (117) Der Sturz der zwei Mädchen vom Turm der Stadtpfarrkirche in Klagenfurt lässt der Erinnerung des ‚Ich‘ keine Ruhe, immer wieder lässt sie sie stürzen und aufklatschen, das ‚Ich‘ flüchtet in die Kirche, nicht um zu beten, und wartet „bis sich die über meinen ganzen Körper ausbreitende Gänsehaut wieder verflüchtigt hatte“, das ‚Ich‘ und sein Leser finden in der katholischen Kirche keine Zuflucht, nur neue und wirklich die schlimmste Beunruhigung. Julien Green habe „seine eiskalte katholische Mutter, mit einem Kerzenleuchter in der Hand, die Decken von seinem Kinderbett heruntergerissen […], um zu sehen, was er so machte […], mit einem gezückten Messer in der Hand“ (118), und die eigene Mutter des ‚Ich‘ belehrt das Kind: „Wer das Brot untereinander schneidet, der schneidet dem Herrgott die Fersen ab.“ Darauf antwortet das Winkler-Kind mit dem Satz, der dem Buch den Titel gibt: „Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot.“ (12)

Aus diesem Kernsatz entfaltet sich die Ästhetik des Widerstands in dieser dichten, vielschichtigen Prosa. Der Widerstand gegen den katholischen Sadomasochismus äußert sich auch im genüsslich-denunzierenden Zitieren eines katholischen Gebet- und Lehrbuchs für Jünglinge von Franz von Sales mit dem Titel Himmelsweg. „Willst du mich krank, so will auch ich. Willst du mich arm, ich bin darob froh. Willst du mich elend, sei es so! Willst du mich ohne Trost und Ruh – Ich halte still – Herr, Jesu Christ, schlag nur zu!“ (66-67) Die hymnische Prosa Winklers zwingt fast zum Laut-Lesen, wie ein ‚anderes‘ Gebetbuch möchte ich das Suhrkamp-Büchlein verwenden, es sieht auch so aus: der Umschlag zeigt zutiefst ironisch Peter Pongratz‘ katholischen Knaben mit seinem Schutzengel. Neben allen anderen Vorzügen ruft diese Prosa zum Widerstand gegen die katholische Opfermoral auf. Weil sie noch lebt. Ich schließe mich an.

Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.
127 Seiten, broschiert.
ISBN: 978-3-518-12556-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 06.05.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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