#Prosa

Ich lege mein Herz

Ingrid Zebinger-Jacobi

// Rezension von Werner Wolf

Es ist nicht ausgemacht, dass, wer Literatur(wissenschaft) studiert (hat), auch Literatur zu schreiben in der Lage ist, geschweige denn gute Literatur. Zu groß ist, so sagt man, der Abstand zwischen Theorie und Praxis. Gleichwohl gibt es immer wieder Beispiele für das Gegenteil – junge (ehemalige) StudentInnen der Literaturwissenschaften, die bemerkenswerte literarische Texte verfassen. Allein aus einer ‚Provinzstadt‘ wie Graz sind dem Rezensenten mehrere Beispiele aus den letzten Jahren bekannt. Andrea Sailer, Georg Petz, Karin Kraus und Johannes Wally gehören zu ihnen und nicht zuletzt die hier zu besprechende Autorin, Ingrid Zebinger-Jacobi, wie Petz und Wally promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie hat bereits 2018 bei der Edition Keiper/Graz einen beachtlichen Erstlingsband mit Kurzgeschichten, Barfuß geht die Zeit, vorgelegt und ist im Jahr darauf mit einer weiteren nicht minder beachtenswerten Erzählsammlung, Ich lege mein Herz, in Erscheinung getreten. Der Band ist ebenfalls bei der Edition Keiper verlegt, einem Grazer Verlag, der sich unter anderem um die Publikation junger Talente erfreulich verdient gemacht hat und bei dem noch sehr gut lektoriert wird (so dass Graphien wie „Apfelputz“ [S. 113] statt „Apfelbutzen“ zu den ganz seltenen Ausnahmen zählen).

Das zuletzt genannte, hier zu rezensierende Buch enthält 25 Kurzgeschichten, also Texte eines Genres, dem immer wieder zu Recht dank der Tendenz zu Kürze bei gleichzeitiger Verdichtung eine Verwandtschaft zur Dichtung zugesprochen wird. Die zumeist nur wenige Seiten umfassenden Geschichten der Autorin (die in Dialogform geschriebene Vignette „Das Blumenmädchen“ besteht gar nur aus zweieinhalb Seiten; nur zwei Texte erreichen Dimensionen von 16 und 18 Seiten) bestätigen diese Zuordnung eindrücklich, zumindest auf den zweiten Blick. Denn sie stehen allesamt, so könnte man sagen, im Zeichen eines trügerischen Understatements, hinter dem sich exquisit Poetisches verbirgt: scheinbar einfach geschriebene, aber tief berührende, oft melancholisch anmutende Episoden aus dem Leben alltäglich wirkender Figuren. Es sind Begebenheiten, die an der Oberfläche meist nichts Spektakuläres an sich haben und bei denen es weit mehr darauf ankommt, was im Inneren der beteiligten Personen vor sich geht, als auf äußere Handlungen in der Erzählgegenwart, wobei Erinnerungen, mitunter ausgelöst vom unerwarteten Auftauchen einer Figur aus der Vergangenheit, ein große Rolle spielen.

In der klaren Verankerung der Geschichten in einem erkennbaren Hier und Jetzt (die Handlungsorte beschränken sich dabei nicht nur auf das sich auch sprachlich vereinzelt bemerkbar machende Heimatland der Autorin, Österreich, sondern umfassen auch z. B. Israel, die Ukraine, Kroatien und die USA, Gebirgs- und Küstenszenerien, städtische wie ländliche Milieus) und in der Fokussierung auf ‚gewöhnliche‘ Menschen in ihren Milieus verrät sich ein Bezug zum realistischen Schreiben des 19. Jahrhunderts. In der Dominanz seelischer und vor allem emotionaler Zustände und Vorgänge über äußere Handlung sind die Texte der Autorin aber auch der Tradition des Modernismus des 20. Jahrhunderts verpflichtet. Und schließlich zeigt sie sich auch durch Verwendung postmoderner Elemente wie Metareferenzen auf das Lesen und Schreiben sowie Metalepsen (wenn die Protagonisten in „Im Angebot. Mittelerde“ in der Welt Tolkiens Leser antreffen) oder das wiederholte Ansetzen einer in der Du-Form geschriebenen Episode („Am Abend“) auf der Höhe der Zeit, allerdings ohne in trockenes oder allzu verwirrendes ‚Experimentieren‘ zu verfallen (in „Am Abend“ handelt es sich z.B. um die mehrfach revidierten schriftlichen Fassungen von Tagträumen einer kinderlosen Frau, die sich eine „Wunschtochter“ ausdenkt und sie in inneren Monologen anspricht – dass dies Imagination bleibt, ist die Tragik der Frau). Diese Dimensionen der Literaturgeschichte in den Texten, Realismus, Modernismus und Postmodernismus, sind indes nur Teile eines Ganzen, aus dem sich ein ganz eigenes Profil der Autorin ergibt.

Dieses Profil ist zuvorderst eines, das für den Leser immer wieder Überraschungen bereithält und sich nicht auf die genannten literaturhistorischen Reminiszenzen reduzierten lässt. So begegnet man einer Vampirgeschichte („Und raus bist du“), einer in einem Figurenbewusstsein sich abspielenden postapokalyptischen und einer surrealen apokalyptischen Geschichte („Simon ist vorbereitet“, „Die Frau im Park“), einer fantasy-ähnlichen Episode aus dem Tagebuch eines Hundemenschen („Doppelgänger“) als Teil einer universitären Seminarstunde, die den Rahmen der Erzählung bildet, einem quasi feministisch invertierten und dabei modernisierten rewriting eines antiken Mythos („Screw you, O.“) oder auch einer surreal wirkenden, dabei aber eher allegorischen Erzählung („Blumenmädchen“).

Neben einer erstaunlichen Vielfalt an Gattungsbezügen und Vertextungsverfahren gehört zum Profil des Bandes eine weithin vorherrschende Stimmung: Diese ist oft melancholisch, von Leid und enttäuschten Hoffnungen gezeichnet. Im längsten und damit allein schon formal herausgehobenen Text „Italienische Reisen“ wird dies durch eine Metapher, die sich auch im Buchtitel wiederfindet, besonders eindrücklich, denn hier legt die Protagonistin nach der gescheiterten Hoffnung, bei einer Italienreise mit ihrem Mann ihre Ehe retten zu können, ihr „Herz“ gegen Ende „zwischen die […] Blätter“ einer Ausgabe von Goethes Italienischer Reise und wirft das Buch dann weg (nebenbei: die wiederholt von der Protagonistin behauptete Nutzlosigkeit des klassischen Textes ist nicht als Absage der Autorin an die literarische Tradition misszuverstehen; im Gegenteil: deren Herz scheint „als Lesezeichen“ durchaus zwischen den Seiten dieser Tradition zu liegen, bzw. diese ihr am Herzen zu liegen). Solch düstere Stimmungen werden aber – und hier zeigt sich erneut der Abwechslungsreichtum des Bandes – mitunter aufgehellt durch die Darstellung einer intakten, liebevollen Ehe („Last Call“) und in einigen zart positiven Erzählschlüssen (wie in „Last Call“ oder „Italienische Reisen“, wo sich am Ende die Möglichkeit einer neuen Geschichte abzeichnet). Ganz selten blitzt auch etwas Humor auf, z.B. wenn in „Italienische Reisen“ der Protagonistin in Florenz bewusst wird, dass sie sich nun statt neben ihrem schnarchenden Ehemann neben einem „Wildschwein aus Bronze“ befindet.

Was die Figuren und Perspektivträger der Geschichten betrifft, so spannt sich hier ein weiter Bogen von unterschiedlichsten, zumeist weiblichen Figuren. Man liest von jungen Frauen mit ihren enttäuschenden Liebesbeziehungen, von älteren unglücklichen oder am Ende ihrer Ehe stehenden Ehefrauen und Witwen bis hin zu einer Sterbenden („Die Taxifahrt“) und einem depressiven Selbstmörder, der noch einmal Kontakt mit seiner Jugendliebe aufnimmt („Schnee“), von eher passiv Leidenden, aber auch von rächenden Täterinnen („Die linke Hand“, „Screw you, O.“), von Einsamen, Kinderlosen, von einer (unglücklichen) Mutter („Die Mutter des Bräutigams“), von sich einander entfremdet habenden Zwillingsschwestern („Ich und du, blinde Kuh“) und einer Achtzigjährigen, deren Versuch, noch einmal auf eigenen Beinen eine längere Strecke zurückzulegen, tragisch scheitert („Die Taxifahrt). Männer kommen zwar seltener als Hauptfiguren vor, und ihnen werden (leider) tendenziell negative Rollen zugedacht (besonders deutlich in „Auflösung“, „Screw you, O“ und „Ein alter Mann“), aber „Last Call“ bietet auch in dieser Hinsicht Überraschendes (eine intakte Ehe mit einem liebvollen Ehemann als Protagonisten), und „Lena“ sowie „Die Frau im Park“ sind bemerkenswerte Beleuchtungen männlichen Verhaltens und Begehrens (im ersteren Fall bezogen auf die Fantasien eines Mannes mittleren Alters, im letzteren Fall mit Blick auf einen Mann, der Liebe als Spiel ansah und dann doch Tieferes, wenn auch Problematisches erlebt).

Ferner kennzeichnen den Band einige stilistische Auffälligkeiten. Abgesehen von dem immerhin in vier Geschichten verwendeten Präsens als Erzähltempus ist erwähnenswert: der Fokus auf Erinnerungen und allgemein ein ‚damals‘, das immer noch das Leben der Figuren beeinflusst, die häufige Verwendung erlebter Rede im Einklang mit dem quasi-modernistischen Ausleuchten von Figuren-Subjektivität, die sich auch oft in der Ich-Erzählform manifestiert, und vor allem die Tendenz zu kurzen, einfachen Hauptsätzen.

Darüber hinaus zeichnet das Profil eine reiche Palette an Themen aus: Das sind einmal die im Buchtitel angedeuteten Liebesbeziehungen, in „Italienische Reisen“ selbstironisch als Hauptthema angedeutet, wenn sich die Protagonistin einleitend fragt, „Worüber sollte ich schreiben? Was sonst gibt es denn. Immer nur Liebe und andere Menschen“. Die Liebe, die hier in den Blick kommt, ist meist problematisch oder scheiternd und jedenfalls leidvoll, und das wohl nicht nur durch die Konventionen des Erzählens, in dem Defizitäres interessanter als Glück wirkt. Besonders deutlich wird diese Tendenz in „Die linke Hand“, einer Geschichte, in der eine unterdrückte Ehefrau ihrem im Gebirge strauchelnden Mann die rettende linke Hand entzieht. Des Weiteren gehören zu den Themen: psychische Beeinträchtigungen („Und Sara traf Walter“, „Metamorphose“, „Simon ist vorbereitet“), das Altern mit seinen Verlusten und Beschränkungen („Andante con moto“, „Lena“, „Die Mutter des Bräutigams“, „Die Taxifahrt“, „Ein alter Mann“), aber auch die Berufswelt (z.B. eines Models in „Auflösung“, oder einer Frau auf Geschäftsreise, die einen Seitensprung wagt „Im Angebot: Mittelerde“).

Weitere Elemente des Profils sind intermediale Bezüge (u.a. zu Film, Popmusik und klassischer Musik) und eine reiche Palette an intertextuellen Referenzen. In „Im Angebot: Mittelerde“, „Metamorphose“, „Italienische Reisen“ sind einige bereits im Titel erkennbar, in „Metamorphose“ sind weitere verdeckt gegeben, denn die Verwandlung der psychisch kranken und von ihrem Psychiater sexuell missbrauchten Protagonistin in der gleichnamigen Geschichte verweist nicht nur auf Kafka, sondern ihr Selbstmord am Ende auch auf Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway, in dessen Nebenhandlung ein geistig Gestörter in einer ähnlichen Situation und auf die nämliche Weise, mit einem Sprung aus dem Fenster, vor seinem ihn peinigenden Psychiater flieht. Besonders eindrucksvoll ist die Intertextualität in „Screw you, O.“, einer invertierten Version des Orpheus und Euridike Mythos aus der Perspektive einer Euridike, die nicht von Schlangen gebissen wird, obwohl in einem gefährlichen Gebiet spazierend, ihren untreuen O., einen Popmusiker, verlässt, sich nicht nach ihm umdreht und diesen am Ende durch ein Posting in digitalen Netzwerken von Fans, modernen Versionen der Mänaden, virtuell ‚zerreißen‘ lässt. All diese Referenzen auf andere Texte und Medien stellen nicht einfach die Belesenheit der Autorin zur Schau, sondern sind organisch in die Bewusstseinswelt der Figuren integriert und von daher auch motiviert. So könnten die Metalepsen in „Im Angebot: Mittelerde“ (in denen Leser auf andere Leser in Tolkiens Erzählwelt zu treffen meinen) auf die Sehnsucht der beiden Hauptfiguren nach gemeinsamem Lesen, nach Kontakt mit Gleichgesinnten deuten, und in „Metamorphose“ ist die kafkaeske Vision des Vergewaltigers als eines Tiers durch dessen Handlung in der Wahrnehmung seines Opfers motiviert.

Besonders auffällig ist ferner, wie häufig die Autorin mit Symbolen arbeitet (z.B. einem roten Band, das eine von ihrem Liebhaber enttäuschte Protagonistin am Ende von „Ich und MacNatty“ fallenlässt wie ihre Beziehung). Nicht minder auffällig: ihr Verwenden von Korrespondenzen zwischen Milieu, Jahres- und Tageszeit sowie dem Wetter (wie der Februarkälte in „Auflösung“) einerseits und anderseits der Stimmung oder dem Zustand der Figuren (der emotionalen Kälte, die sich die Hauptfigur von „Auflösung“ um ihres Model-Engagements willen verordnet hat).

Insgesamt ist die Leserin / der Leser im vorliegenden Band mit einer Kunst der Andeutung konfrontiert, in der er selbst ergänzen muss (wie bereits beim Buchtitel Ich lege mein Herz…), in der er aufgerufen ist, sich selbst einen Reim aus dem Gesagten und Nicht-Gesagten mit seinen Leerstellen zu machen (nur manchmal unterstützt durch Markierungen wie „als würde es etwas bedeuten“, S. 25). Diese Selbständigkeit, in welche die Autorin ihre Leser entlässt, gilt auch für die Bewertungen der Figuren. Kein auktorialer, autoritativer Erzähler macht hier Vorgaben, vielmehr muss man selbst erkennen, was z.B. das Problem der Hauptfigur von „Andante con moto“ ist, und auch die Schlüsse sind immer wieder offene (besonders markant derjenige der letzten Geschichte „Die Frau im Park“), allenfalls weitere Entwicklungen andeutende: So wird die Protagonistin von „Ich und MacNatty“, die gegen Ende der Geschichte zur epiphaniehaften Erkenntnis gelangt (zum Schauplatz ‚Hl. Land‘ passend), dass sie ausgenutzt wurde, wohl ihren Liebhaber nicht mehr treffen; und die Protagonistin von „Andante con moto“ wird wahrscheinlich eine Beziehung mit ihrem Sitznachbarn eingehen, wenn die Korrespondenz mit dem fröhlichen Schlussakkord des vor der entscheidenden Konzertpause gehörten Symphoniesatzes als Hinweis gelesen werden kann; und das durch die Konvergenz der Partybesuche sich abzeichnende Zusammentreffen zweier Figuren, die sich durch Gerichtsbeschluss eigentlich aus dem Weg gehen müssen („Und Sara traf Walter“) wird vermutlich mit einem Eklat enden – aber all das liegt jenseits der Grenzen des Erzählten im Bereich von Vermutungen. Mitunter lässt die Andeutungskunst der Autorin – entgegen dem ansonsten vorherrschenden Eindruck von unspektakulärer Ereignislosigkeit – überraschend auch durchaus ‚Sensationelles‘ erkennen, wenn eben auch nur in knappen Hinweisen: z.B. in „Auf dem Berg“, einer Geschichte, die mit dem (wahrscheinlichen) Selbstmord durch Erfrieren eines von der Ehefrau Verlassenen endet, in „Schnee“, einem Text, der in einem Selbstmord seinen Höhepunkt findet (erneut durch Erfrieren), oder in „Ein alter Mann“, der Geschichte eines Triebtäters, der einst in einem Wald eine junge Frau erstochen hat, und immer noch dem inzwischen gerodeten Wald nachtrauert, nicht aber seine Tat bedauert, zusammen mit Hinweisen auf Tierisches eine höchst implizite Form der Sympathielenkung gegen den Protagonisten.

Solches nur andeutendes, oft offenes und zum lyrikhaft langsamen Lesen einladendes Erzählen mag manche, die leichte, eindeutige Lektürekost voller ‚Action‘ vorziehen, frustrieren. Diejenigen aber, die bereit sind, tiefer zu schürfen und sich auf die Texte einzulassen, lädt der Band ein, über die Grenzen des Lektürevorgangs hinaus nachzudenken – und das ist kein geringer Vorzug anspruchsvoller und komplexer Literatur. Manches an den dicht komponierten Erzählungen der Autorin entbirgt sich erst beim zweiten Lesen, aber gerade das ist ein Zeichen guter Texte, die sich im Verstehen, was passiert, nicht verbrauchen, sondern Wiedergebrauchstexte sein wollen. Und zum Nach-Lesen wie zum Nach-Denken regen die Geschichten von Ingrid Zebinger-Jacobi allemal an. Sie loten trotz ihrer Kürze erstaunliche Tiefen – manchmal Abgründe – des Lebens aus und durchmessen mit ihrer Vielfalt an Figuren, Einfällen, Vertextungsverfahren und Themen eine weite Dimension menschlichen Lebens und Leidens. Trotz der oft melancholischen, manchmal auch – wie die oft beschrieben Wolken – düsteren Stimmung ist das Lesen ein Vergnügen. Der Band sei daher allen LiebhaberInnen von Kurzgeschichten wärmstens empfohlen.

Ich lege mein Herz.
Kurzgeschichten.
Graz: Edition Keiper, 2019.
191 Seiten, gebunden.
ISBN13: 978-3-903144-76-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 12.01.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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