#Prosa

Ich kann jeder sagen

Robert Menasse

// Rezension von Christine Schranz

Der dritte Satz schon beunruhigt die Rezensentin: „Als ich Eva zum ersten Mal küsste, hörten wir die Platte ‚Born to be wild.'“ Ich kann jeder sagen? Nein, dachte ich in einem Anflug von Panik, ich nicht. Ich kann nicht sagen: „Als ich Adam oder Marie, Melissa oder Joachim zum ersten Mal küsste, hörten wir …“ Ich kann mich nämlich nicht erinnern. Menasses Protagonisten hingegen tun genau das mit großer Hingabe: sie erinnern sich.

Passend zum bevorstehenden zwanzigjährigen Jahrestag des Mauerfalls beginnen „Die neuen Leiden des fremden Freundes“ mit einem Tagebucheintrag aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989: „In zehn Jahren werde ich gefragt werden, ob ich mich erinnern kann, wo ich heute Nacht gewesen bin. Ich muss mir merken: hier! Und ich werde gefragt werden, was ich gerade gemacht habe. Niemals vergessen: dies!“ In seinem zweiten Tagebuch, in dem der Erzähler „die Wahrheit notiert“, heißt es im August 2009 rückblickend: „10. November 1989. Als ich im Fernsehen die Bilder der Maueröffnung sah, sprang ich auf und suchte mein Briefmarkenalbum.“ Als zehnjähriger Philatelist nimmt der Erzähler bereits 1964 die Geschichte vorweg und ordnet die „zwei Deutschlands“ in dieselbe Abteilung seines Briefmarkenalbums.
Auch in „Ewige Jugend“ gedenken zwei Freunde in einem Pariser Café des 9. Novembers 1989, der Hochzeitsnacht des Erzählers. In dieser Nacht sei, wie er berichtet, nichts weiter passiert – man habe sie im Hotelzimmer vor dem Fernseher verbracht und Geschichte erlebt.

Wie der Autor selbst sind viele seiner Figuren für die Achtundsechziger gerade „zu spät gekommen“ und müssten sich bis heute die Reminiszenzen derer anhören, die nur wenige Jahre älter sind –, hätte es da nicht jenen 9. November gegeben: „Jetzt, endlich, doch noch, hatten wir […] unser eigenes großes Geschichtserlebnis. Wir sind, wenn wir vernünftigerweise etwas sind, Neunundachtziger. Mit diesem Jahr haben unsere Biographien Wurzeln in der Geschichte geschlagen, ist unser Denken Epochendenken geworden.“

Oft sind es triviale Erinnerungen, die die Erzähler mit historischen Daten verbinden: romantische Momente, Reiseeindrücke, erste Begegnungen, Hotelzimmer. Geschichtserlebnisse machen schwermütig und nostalgisch, werden nach einem Glas Bier verklärt: Lesezeichen im eigenen Leben, an denen sich Erinnerung festmachen lässt, dramatische Kulissen, die Anekdoten ihre Bedeutung verleihen.

Auch Deborah, die Freundin in der „Amerikanischen Brille“, weiß sich der Vergangenheit zu bedienen. Als sie (zur großen Erleichterung des Ich-Erzählers) erfährt, dass ihre Schwangerschaft nur eine Scheinschwangerschaft war, erzählt sie, dass ihre Kindheit im Alter von vier Jahren zu Ende gegangen sei – mit Kennedys Ermordung. „Kannst du dir vorstellen“, fragt Debbie, „was das für ein Kind bedeutet, wenn es hört: Ab jetzt gibt es nur noch Trauer und Hoffnungslosigkeit auf der Welt? Kannst du dir das vorstellen? Wenn das zur ersten klaren Erinnerung eines Menschen wird?“

Historische Momente als Denkmäler zerstörter Hoffnung, Wegkreuzungen der Geschichte, die an ein anderes Leben erinnern, das sein hätte können, vielleicht fast gewesen wäre – aber eben nur fast. In „Aufklärung kommt vor dem Fall“ erinnert sich ein Detektiv überm sehnsüchtigen Erwarten seiner Pensionierung an den schicksalhaften 11. September 1973 – Militärputsch in Chile und Ermordung Salvador Allendes –, als er vor der Amerikanischen Botschaft mit Pflastersteinen auf Polizisten warf, worauf sich sein Vater weigerte, seinem Sohn – einem vermeintlichen Maoisten – das Philosophiestudium weiterzufinanzieren. Nicht nur, dass dieser später selbst Polizist wird und von seinem Philosophiestudium nichts als eine unvollendete Seminararbeit über die „Dialektik der Aufklärung“ bleibt. Jahre später steht er seinem eigenen Sohn ebenso unverständig gegenüber wie einst sein Vater ihm.

In den „Blauen Bänden“, deren Erzähler einst in der Nacht nach der Palmers-Entführung die Marx-Engels-Werke aus den Mülltonnen sämtlicher Freunde aus der linken Szene gerettet hat, wird die Autorität von Vergangenheit und Erinnerung deutlich und zugleich hinterfragt. „Alles Lügen! Ich konnte mich nicht einmal an einen dramatischen Vorfall erinnern, der nur kurze Zeit zurücklag, wie sollte es da möglich sein, sich an sein ganzes Leben zu erinnern? Lügen! Vielleicht ist das die Definition von Autobiographie: Dialektische Lebenslüge“, stellt er nach einer Zeugenaussage fest und spielt mit dem Gedanken, alle Autobiographien aus seiner Buchhandlung zu verbannen.

Mit gewohnter Scharfsichtigkeit greift Menasse teils leichtfüßig und humorvoll, teils nachdenklich und kritisch Nostalgie, Identität und Mentalität auf, verwebt subtile und zugleich eindringliche Kommentare zu Politik und Gesellschaft mit Geschichten und Geschichte. Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Erinnerungen der Erzähler ein bisschen auch die Erinnerungen des Autors sind: die Frau hinter der „Jalousienbrille“ am Buchumschlag ist Menasses Mutter, und die Erzählungen handeln von Philosophen und Schriftstellern, linken Studenten, jüdischen Familiengeschichten und Geburtstagen im Jahr 1954.

Die Rezensentin jedenfalls legt das Buch beruhigt zur Seite, versöhnt mit dem eigenen Erinnerungsvermögen. Sie gehört zwar zu denen, „die […] zu spät gekommen waren für die Achtundsechziger“, und sogar für die Neunundachtziger. Aber immerhin, das weiß sie bestimmt, wird sie sich beim nächsten Mal erinnern. Von jetzt an wird auch sie sagen können: „Als ich Eva zum ersten Mal küsste, hörten wir die Platte …“

Robert Menasse Ich kann jeder sagen
Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.
185 S.; geb.
ISBN 978-3-518-42114-7.

Rezension vom 08.09.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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