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»ich denke in langsamen Blitzen«.
Friederike Mayröcker
Jahrhundertdichterin

Bernhard Fetz (Hg.), Katharina Manojlovic, Susanne Rettenwander

// Rezension von Astrid Nischkauer

Friederike Mayröcker (1924-2021) wäre heuer 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass widmet ihr das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek eine umfassende Ausstellung. Das im Zsolnay Verlag erschienene Begleitbuch, »ich denke in langsamen Blitzen«. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin, gibt mit vielen Beiträgen über sie, sowie mit Typoskriptseiten, Zeichnungen und Fotografien von ihr, Einblick in den Schreibkosmos und das legendäre Zetteluniversum der Autorin.

 

Im Dezember dieses Jahres hätte Friederike Mayröcker ihren 100. Geburtstag gefeiert. 2021 starb sie im Alter von 96 Jahren. Ein Teil ihres Vorlasses ging an die Handschriftensammlung der Wienbibliothek, der Großteil des Nachlasses befindet sich allerdings im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

„Dieser auch nach internationalen Maßstäben unvergleichliche Bestand, der mehrere Hundert Umzugsboxen umfasst, besitzt aufgrund der vielen unpublizierten Dokumente einen hohen Erkenntniswert für Forscher*innen und Leser*innen.“ (Bernhard Fetz: Zur Einführung, S. 12)

 

Der Band »ich denke in langsamen Blitzen«. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin, herausgegeben von Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic und Susanne Rettenwander und erschienen im Zsolnay Verlag als Begleitbuch zur Ausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek möchte uns zum einen Werk und Leben Friederike Mayröckers näherbringen:

„Besonders hervorzuheben ist die Offenheit des immens vielfältigen Werkes für Einflüsse aus der bildenden Kunst, der Musik, der Philosophie und der internationalen Poesie. Sinnbild dafür ist ein alter Flügel, noch aus dem Besitz der Eltern Friederike Mayröckers, der im Lauf der Jahre von den Papierablagen so überwuchert wurde, dass sein Standort nur mehr zu erahnen war.“ (Bernhard Fetz: Zur Einführung, S. 13)

 

Zum anderen ist dieses Buch aber auch ein Versuch, für das Archiv zu begeistern, das aktiv genutzt werden kann und soll:

„Das Archiv wird dabei zum privilegierten Erkenntnisraum für eine poetische Praxis, deren Hervorbringungen von der Sinnlichkeit des involvierten Schreibmaterials zehren.“ (Alexandra Strohmaier: Friederike Mayröcker – Scriptor. Zur Materialisierung von Autorschaft an Dingen des Archivs, S. 88)

 

Allein die Fülle an vorhandenem Material und der lange Zeitraum von Mayröckers Schreib-Leben sind kaum zu fassen. Friederike Mayröcker begeisterte die Massen und begegnete gerade jüngeren Kolleg:innen immer interessiert wohlwollend, wodurch sie zur Bezugsperson vieler Generationen von Dichter:innen wurde. Die größte Herausforderung für die Konzeption der Ausstellung und des Buches muss daher gewesen sein, eine Auswahl zu treffen aus all dem, was relevant zu sagen wäre, und aus all denen, die etwas zu sagen hätten zu und über Friederike Mayröcker.

Facettenreiche Einblicke in das Leben der Jahrhundertschriftstellerin

Der Band ist sehr großzügig mit Fotos von Friederike Mayröcker, ihrer Wohnung sowie Dingen und Typoskripten aus dem Nachlass ausgestattet, die so manche Überraschung bereithalten, wie folgendes für Friederike Mayröcker formal ungewöhnliche, frühe Dialektgedicht, das inhaltlich mit der Vergänglichkeit jedoch ein in ihrem Werk zentrales Thema aufgreift:

„friederike mayröcker

dhimlschlisln
dmagaridln
unddirosn
haumsbessa
wi wia

dihaumnonii
aunsschdeamdengnmiassn“
(Typoskript um 1958, S. 149)

 

Besonders spannend sind Abbildungen von Typoskriptseiten mit handschriftlichen Streichungen, Ergänzungen, Anmerkungen oder Zeichnungen, da sich an ihnen der Überarbeitungsprozess ablesen lässt.

Des Weiteren enthält der Band nicht nur eigens hierfür verfasste Beiträge, sondern auch Beiträge bereits verstorbener Kolleg:innen Mayröckers, wie von Andreas Okopenko:

„Schon oft hatte es mich danach verlangt, in Friederike Mayröckers gesammelten Schriften zu wühlen. Als die junge Englischlehrerin, eine auctrix cunctatrix, dieses Verlangen zu stillen endlich bereit war, stöhnte ich bald vor der Fülle an Texten, die allerdings durch viele Durchschläge und Neufassungen grausam vermehrt war. Dazu kam, daß weder die Texte datiert noch die Fassungen numeriert sind; man kann ihr also selbst als Nachlaß-Fan nur ein langes Leben wünschen.“ (Andreas Okopenko, 1962, S. 138)

 

Oder Thomas Kling:

„Mayröckers Werk setzt ein unbegrenztes Vertrauen, ihr ganzes Vertrauen, in die dichterische Möglichkeit der Sprache, die auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen ihr verwehrt ist.“ (Thomas Kling, Laudatio, gehalten anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2001 an Friederike Mayröcker, S. 164)

 

Gerade am Text Okopenkos wird der Rezeptionswandel im Laufe von Friederike Mayröckers langem Leben greifbar, da er in heutzutage ungewöhnlich anmutender Art und Weise über ihre Arbeiten schreibt. Wohlwollend und wertschätzend als Freund und Kenner, und doch kritisierend und kategorisierend, wie man es in späteren Jahren wohl kaum gewagt hätte.

Und auch Friederike Mayröcker selbst kommt nicht allein durch ihre Texte, sondern auch in einem 1998 mit Heinz-Norbert Jocks in Wien geführtem Interview zu Wort:

„Sowohl beim Besuch von Ausstellungen als auch beim Betrachten von Bildbänden, Katalogen oder Kunstpostkarten, die Bilder der mir besonders lieben Künstler zeigen, fresse ich mich in diese hinein. Ja, ich verbohre mich buchstäblich in das Bild und hole da für mich Verbales heraus. Das kommt mir fast wie ein archäologischer Akt vor. Ich buddle aus dem Bild, selbst aus einer schlechten Reproduktion etwas heraus, was ich zuvor für unmöglich gehalten habe. Dabei öffnet sich mir verbal ein ungeheurer Horizont.“ (Friederike Mayröcker im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, 1998, S. 249)

Das Archiv als Dialog zwischen Zeiten und Worten

Die Beiträge des Profile-Bands nehmen nicht nur Mayröckers Spätwerk in den Blick, sondern es werden ebenso Werke aus verschiedenen Schaffensperioden in Hinblick auf unterschiedliche Aspekte eingehend betrachtet. So widmen sich beispielsweise Katharina Manojlovic in einem Beitrag der Blumenmetaphorik im Werk Friederike Mayröckers, Cornelius Mitterer Mayröckers Kinderliteratur, Theresa Präauer ihren Schutzgeister-Zeichnungen oder Frieder von Ammon Friederike Mayröckers Musikbezügen am Beispiel Franz Schuberts.

»ich denke in langsamen Blitzen« zeigt, auf welch vielfältige und unterschiedliche Art und Weise Archive produktiv genutzt werden können. Naheliegenderweise von Literaturwissenschaftler:innen, die Genaueres zur Genese eines Werkes erfahren möchten. So geht Arnhilt Inguglia-Höfle in ihrem Beitrag Aus Reise durch die Nacht wird NADA. NICHTS. anhand von Archivmaterial der „Transformation des Werks von Buch zu Bühne und Radio“ nach. Aber auch Schriftstellerkolleg:innen wurden eingeladen, sich mit Archivmaterial zu befassen, wie Frieda Paris, die sich gezielt den Rückseiten der von Friederike Mayröcker beschriebenen Zettelchen und Kartonstückchen zuwendet. Zu Wort kommen mit Germanist:innen und Schriftstellerkolleg:innen aber nicht nur Mayröcker-Leser:innen, sondern auch Weggefährt:innen und Menschen, die intensiv mit ihr zusammengearbeitet haben, wie Lucie Taïeb, eine ihrer Übersetzerinnen ins Französische, oder Doris Plöschberger und Thorsten Ahrend, zwei ihrer Lektor:innen bei Suhrkamp.

Lucie Taïeb gibt Einblick in ihre persönliche Lese- und Übersetzungserfahrung Mayröckers:

„Ich erinnere mich noch an die Tempovariationen – an die große Langsamkeit beim ersten Lesen. Das Eindringen in den Text wie in ein Gesträuch, in Ranken, in einen Strauß unbekannter Blumen; das Auffinden vereinzelter Wörter, die gleichsam an Dornen festhängen, Satzpassagen; das Fassen, das Nichtfassen, das Nicht-Zurechtfinden. […] Als ich die Übersetzung dieses Buches annahm, wusste ich nicht, was mich erwartete. Ich erinnerte mich bloß an eine Lesung der Autorin in Paris […] Ich erinnerte mich an Mayröckers Stimme und ihr Timbre, an ihre Art zu lesen: wie sie die Stimme am Satzende nicht senkte. So blieb das Ende der Gedichte in der Schwebe. Das ergab eine Stille, wie ich sie selten gehört hatte, niemand wollte unterbrechen. Ich erinnere mich an diese Stille.“ (Lucie Taïeb: Anmerkung zur Übersetzung von Friederike Mayröcker ins Französische, S. 192f.)

 

Doris Plöschberger wiederum war ab 2008 Mayröckers Lektorin und begleitete ihr Schreiben seither bis zuletzt aus nächster Nähe:

„Wenn ich das so sagen darf, hat Friederike Mayröcker gewissermaßen um ihr Leben geschrieben: Leben war Schreiben. Schreiben war Leben. Das kommt ja häufig auch in ihren Büchern vor: Leben und Schreiben sind im Grunde synonym, das eine nicht trennbar vom anderen, und es war eigentlich immer klar: In dem Moment, in dem die Kraft zu schreiben erlahmt, ist auch dieses Leben zu Ende, und so war‘s ja dann auch. Und insofern war sie überhaupt nicht zu bremsen, weil aus dem Schreiben die Energie für dieses Leben gekommen ist.“ (Doris Plöschberger im Gespräch mit Bernhard Fetz und Katharina Manojlovic, S. 227)

 

Das Buch ist in seiner Vielstimmigkeit und angelegten Breite – sowohl was die eingeladenen Beiträger:innen als auch das weite thematische Spektrum und den großen zeitlichen Rahmen, der abgedeckt wird, anbelangt – eine Herausforderung. Und so kommt man sich zeitweise vor, als stünde man selbst zwischen den sich auftürmenden Zettelbergen und Wäschekörben in der Wohnung der Dichterin, oder vor einem Tisch mit ihren über hundert Werken, von denen man vielleicht zwar viele, aber sicher noch nicht alle gelesen hat. Doch statt zu überwältigen, werden immer wieder neue Wege durch das Leben, Werk und Archiv Friederike Mayröckers aufgezeigt, andere Zugänge vermittelt, persönliche Erinnerungen und Leseerfahrungen geteilt. Und so ist es ein Buch, das weit über sich selbst hinausweist und uns auffordert, sich noch intensiver und immer neu mit dem Werk Friederike Mayröckers zu befassen:

„Es fällt mir nicht leicht, dies zu sagen: Wir müssen uns anstrengen, wir müssen einen Weg finden, jeder für sich, also alle gemeinsam, um von nun an auf neue Weise in ihrem Werk zu versinken, mit Haut und Haar, so wie sie im Leben mit Haut und Haar in das Schreiben versunken ist – in einer Poesie, die ihresgleich nicht hat in dieser Welt.“ (Marcel Beyer, Trauerrede für Friederike Mayröcker, Wien, 17. Juni 2021, S. 48)

 

Astrid Nischkauer, geb. 1989 in Wien. Studierte Germanistik und Komparatistik. Übersetzungsbegeisterte Lyrikerin, Literaturvermittlerin und Herausgeberin. Mitarbeit im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft und bei der IG Autorinnen Autoren, Programmkoordination für literadio.org. Im Herbst 2024 erscheint mit Flügelspitze an Flügelspitze (Literaturedition Niederösterreich) ihr fünfter Gedichtband zu Bildern von Linde Waber in Erinnerung an Friederike Mayröcker. Mehrere Übersetzungsbände, zuletzt: Geraldine Gutiérrez-Wienken Die Stille ist ein Tänzer. El silencio es una bailarina (fabrik.transit, 2024). Herausgaben: Literarische Selbstgespräche (Klever, 2021) und Melitta Urbancic Unter Sternen. Gedichtauswahl (Theodor Kramer Gesellschaft, 2022). Lebt zwischen Bücherbergen und in Wien.

»ich denke in langsamen Blitzen«. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin
Herausgegeben von Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic, Susanne Rettenwander.
Profile-Band.
Wien: Zsolnay, 2024.
352 Seiten, Paperback.
ISBN 978-3-552-07394-4.

Verlagsseite mit Informationen zum Buch

Die Ausstellung »ich denke in langsamen Blitzen«. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek läuft von 18.4.2024 bis 16.2.2025.

Rezension vom 15.07.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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