„Diskret ist die Kunst. Aufdringlich ist der Kitsch“ steht als Zitat dem Buch voran, und in den Kapitelüberschriften geht das Zitieren gleich munter weiter, von Nietzsche bis Heine und von Bach bis zu den Beatles. Dieser Autor hat als Berufs-Philosoph (http://www.natterphil.at) wohl mehr mitzuteilen als in einen schmalen Krimi von 140 Seiten hineinpasst, das sollte man ihm vorerst nachsehen. Nach vier Zitaten und einer Widmung geht es dann auch ohne Umschweife zur Sache, was heißt: mittenhinein ins alemannische-Funken-Brauchtum, das am ersten Sonntag der Fastenzeit den Winter vertreiben soll. Ein bukolisches Volksfest mit Hexenverbrennung, Bier, Schnaps, Glühwein und allem, was sich daraus üblicherweise ergibt.
Und hier ist der entscheidende erste Satz tatsächlich unaufdringlich: „Lange Zeit ist immer alles gut gegangen.“ Das ist herrlich-lakonisches Understatement angesichts dessen, was in der Folge passiert, sozusagen die Umkehrung des bekannten „Jetzt ist schon wieder was passiert“ von Wolf Haas, das Natter hier vielleicht zitiert, vielleicht aber auch nicht. Gut so!
Versöhnt stürzt man kopfüber in eine haarsträubende Geschichte, die bei aller Drastik doch plausibel ist, voller Witz und Lokalkolorit, ein Sittengemälde des saubersten Bundeslandes und seiner Bewohner, deren Geschäftstüchtigkeit schon auch mal über den Rahmen des Gesetzes hinausreicht, wenn ihnen wie einst dem österreichischen Vizekanzler a.D. Hubert Gorbach the world in Vorarlberg too small wird.
Worum geht es also konkret in dieser Geschichte? Um korrupte Beamte, betrogene Erben, schwindelerregende Geldsummen, eine schöne Frau, ihren Mann und ihren Liebhaber, der als Toter im Hexenkostüm auf dem traditionellen Oberdorfer Funken landet. Dieser seltsame Mord führt Inspektor Ibele in die feine Dornbirner Gesellschaft, in den Salon der mondänen Frau Häfele, die ihren eigenen Mann für den Mörder hält. Doch bald ist auch dieser tot und die Geschichte gewinnt schnell an Fahrt. Touristische Attraktionen wie die Dornbirner Karrenseilbahn und das historische „Wälderbähnle“, eine Museumsbahn im Bregenzerwald, müssen als Fundorte übel zugerichteter Leichen herhalten.
Inspektor Isidor Ibele, der wie immer vom Essen weg zum Tatort gerufen wird und dem die Abgründe menschlicher Gier kaum einmal den Appetit verderben, ist ein Kommissar, der sich von all den grantelnden, einsamen und überarbeiteten Helden vieler Krimis auf wundersame Weise abhebt: Isidor Ibele ist ein glücklicher Mann, er lebt in größter Harmonie mit seiner Frau „Rösle“, die fast immer für ihn da ist und nicht nur hervorragend kocht, sondern dem Tolstoi lesenden („Krieg und Frieden in der wunderschönen neuen zweibändigen Hanser-Ausgabe“) und Bach hörenden Kommissar auch als zugewandte Gesprächspartnerin ihr Ohr leiht, und an deren Seite es sich einfach himmlisch einschläft. Ibele und das kleine Glück! Das Bild der wunderbaren Rosalia scheint von den unvereinbaren Anforderungen der heutigen Zeit völlig unangekränkelt: Kochleidenschaft als „Einheit von Geist, Sinnen und Seele“ (S.14). Peter Natter schafft hier ein romantisches Gegenmodell zur Realität, eine Insel, auf die das Leben draußen keinen Zutritt hat, nicht einmal die eindrucksvolle Frau Häfele, die den Kommissar am Ende gar am Mobiltelefon anruft.
Zu dieser Szenerie passt auch Rösles abendliche Lektüre, „Adalbert Stifters Nachsommer, das Buch vom Rosenhaus, die Geschichte einer späten Liebe mitten in einer wundersam geordneten Welt.“ (S.22)
Über die Ordnung der Welt, ganz grundsätzlich, macht sich Kommissar Ibele im Lauf der Handlung immer wieder seine Gedanken, er ist Philosoph wie sein Autor. Ganz im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten, dem Polizeigeneral, der als „wandelnde Sachverhaltsdarstellung“ durch die Medien geistert und dabei einem anderen eloquenten Zeitgenossen, dem Primarius Hallmüller mit seinen stets auf Knopfdruck verfügbaren psychologischen Expertisen in nichts nachsteht. Mit Hallmüller (oder Haller) scheint Ibele jedoch neuerdings Frieden zu schließen, nachdem im ersten Krimi „Die Axt im Wald“ dessen Arbeit noch Ziel von beißendem Spott war.
Ibeles erklärtes Vorbild ist Georges Simenons Kommissar Maigret, wie dieser hat er es selten mit Berufsverbrechern zu tun; seine Klienten sind Menschen, die eines Tages in eine Geschichte hineinschlittern und dann in der Not einen Mord begehen. Die Suche nach der Lösung des Falles ist gleichzeitig die Suche nach der menschlichen Wahrheit dahinter. Maigret ließ unter Umständen einen Täter laufen, wenn er dessen Motive verstanden hatte, und Ibele trinkt am Ende ein Gläschen vom hauseigenen Holunderschnaps auf das erste Opfer des Romans, den heruntergekommenen Playboy im Hexenkostüm, der zwar keineswegs unschuldig war, dem aber angesichts seines Schicksals Achtung gebührt. Santé!
Natters Sprache ist passagenweise schlicht und funktionell, aber nur passagenweise, denn im Autor lodert eine Liebe zu Wortspielen und lehrhaften Exkursen in die Literatur, Musik oder Geschichte. Dazu kommen typisch alemannische Ausdrücke, Ortsbezeichnungen und Namen, der heimelige Diminuitiv etwa bei Rösle, Ibele, Häfele usw.
Kabarettistisch wird der Text, wenn der „General“ auftritt, das klingt dann wie Robert Palfraders Fernsehshow „Wir sind Kaiser“: „Also Ibele, was redet er denn da? (…) Mag er keine Feuerchen? Und außerdem: Weltkulturerbe sind die Funken, Ibele, Weltkulturerbe! Weiß er’s nicht?!“ (S.32)
Zu guter Letzt sind Natters Krimis auch Reiseführer durch Landschaften und kulinarische Freuden Vorarlbergs, etwa durch den Bregenzerwald im ersten Roman „Die Axt im Wald“. Da gibt es eine hochsommerliche Tour mit dem Dienstmotorrad, einer gar nicht bescheidenen 1200er BMW, von Bregenz bis ins Kurbad Reuthe, mit Aufenthalten in der Hittisauer „Krone“, am Sulzberger „Sonnenbalkon“ und beim Kirchlein in Reuthe, dem ältesten des sogenannten „Hinterwaldes“; zurück geht’s über Schwarzenberg und das „Bödele“, mit einer bedächtig zelebrierten Gauloise auf der Passhöhe. Und das alles, um angesichts eines verstörenden Mordfalles Kopf und Seele auszulüften.
Isidor Ibele ist wirklich ein glücklicher Mann!