#Essay

Hungerkünstler

Bernhard Kathan

// Rezension von Gianna Zocco

„Wir lieben einen Menschen nicht wie Hunger, sondern wie Nahrung. Wir lieben als Menschenfresser. […] Die geliebten Menschen liefern uns durch ihre Gegenwart, ihre Worte, ihre Briefe Stärkung, Energie, einen Antrieb. Sie haben auf uns dieselbe Wirkung wie ein gutes Essen nach einem kräftezehrenden Arbeitstag. Wir lieben sie also wie Nahrung. Es ist also eine Kannibalenliebe.“ (S.23)

Bernhard Kathans Essay Hungerkünstler ist voll von scharfsinnigen, grotesken, extremen Zitaten wie diesem von Simone Weil. Und vielleicht zeigen solche Zitate am besten, worum es in Kathans Essay geht, wobei das „Worum“ in diesem Fall eng verknüpft ist mit dem „Wie“. Kathan widmet sich SchriftstellerInnen und KünstlerInnen, die in ihrem Leben die Erfahrung des Hungerns gemacht haben, und sucht Spuren dieser Erfahrung in ihren Werken. Aus diesen Spuren, aus einzelnen Zitaten und längeren Textmontagen, setzt sich ein großer Teil des Essays zusammen. Kommentare und Interpretationen des Autors finden sich nur an wenigen Stellen, seine eigene Stimme wird vor allem durch die Form der Montage hörbar, durch die Art, wie Zitate miteinander verknüpft, verglichen und kontrastiert werden und welche Fragen und neuen Zusammenhänge sich dabei auftun.

Diese Methode basiert auf einer literaturtheoretischen Annahme, die Kathan auch direkt formuliert: „Die Literaturgeschichte kennt weniger originäres Material als originäre Bearbeitungen.“ (S.202) Und zweifelsohne bietet diese Herangehensweise im Hinblick auf den Stoff des Essays große Vorteile: Die LeserInnen werden mit einer Vielzahl von Aspekten und Motiven bekannt gemacht, die die einzelnen Geschichten hungernder KünstlerInnen miteinander gemeinsam haben. Simone Weil und Nikolai Gogol – beide freiwillig Hungernde – etwa verbindet mit den christlichen Mystikerinnen Katharina von Siena und Agnes Blannbekin die „radikale Ablehnung des Körpers“ (S.25) und die Sehnsucht nach spiritueller, geistiger Nahrung: Die Verweigerung der „materiellen Speise“ geht einher mit der Sättigung durch teils bizarre „geistliche Genüsse“ (S.115), die, wie im Fall der Agnes, deren Visionen später vom ebenfalls hungernden Oskar Panizza verarbeitet wurden, allerdings wieder sehr körperliche Formen annehmen können: „In Weinen und Mitleid versunken fing ich an zu überlegen, wo die Vorhaut des Herrn hingekommen sein möge. Und siehe: bald fühlte ich auf der Zunge ein kleines Häutchen, nach Art des Häutchens eines Eies, von äußerster Süßigkeit, und ich schlukte [!] es hinunter.“ (S.117)

Die Formen der Selbstopferung, die in Anlehnung an das christliche Abendmahl und an ein Verständnis von Kunst, die das eigene Leben als Nahrung benötigt, praktiziert werden, sind oft nicht zu trennen von Selbstinszenierung, Selbstüberschätzung und extremer Selbstbezogenheit. Katharina von Siena, so Kathan, war vielleicht „die Erste, die ihren Körper zu einem Kunstwerk gemacht hat“ (S.90), während über Simone Weil gesagt wird: „Je mehr sie bemüht war, eben dieses Ich abzutöten, umso mehr drängte es an die Oberfläche. Letztlich findet sich in ihren Texten nur eine einzige Weltsicht, nämlich die der Simone Weil.“ (S.31)

Doch nicht nur Hungerkünstler aus Überzeugung, sondern auch die wegen äußerer oder körperlicher Gründe Hungernden kommen in Kathans Essay zu Wort, etwa Daniil Charms, César Vallejo oder Franz Kafka, der wegen seiner Kehlkopftuberkulose zuletzt kaum noch Nahrung oder Wasser aufnehmen konnte. Kafka, um den wegen der vielen germanistischen Analysen seines „Hungerkünstlers“ zunächst ein großer Bogen geplant war, nimmt dabei eine gewisse Sonderstellung ein: „Mochte Kafka auch verhungert sein, so starb er doch ganz anders. Kafka suchte keine Tröstungen in einer wie immer gearteten heilen Welt. Anders als Gogol oder Simone Weil suche er keine Tröstungen in der Religion. Und beschäftigte er sich damit, dann in einem Verfahren, in dem auf eine Frage eine andere folgte. Entlastende Antworten bot er nicht.“ (S.199)

Abseits von der Frage nach freiwilligem oder erzwungenem Hungern streicht Kathan eine große Gemeinsamkeit heraus, die die von ihm dargestellten Personen verbindet: „Sie alle sahen etwas, das nur jemand zu sehen vermag, der in einem gewissen Sinne bereits gestorben ist. Sie alle erlebten, wenn auch auf unterschiedliche Weise, so etwas wie einen sozialen Tod. Sie sind aus der Sprache der anderen herausgefallen. Erstaunlicherweise sind gerade sie es, die zu lesen es sich heute lohnt. Jene, die Gogols Briefwechsel besonders heftig attackierten, sind heute nur noch Literaturwissenschaftlern bekannt. Gogol kann man dagegen immer noch lesen, dies nicht zuletzt deshalb, weil man sich an seinen Texten immer noch reiben kann, weil sich in ihnen die Frage nach dem Geschriebenen, dem Kunstwerk stellt.“ (S.174)

Die Darstellung dieser Reibungen ist es, die auch Kathans Essay zu einem äußerst lesenswerten Buch macht. Gesteigert wird die Leselust dabei durch die ansprechende Aufmachung: Dem Buch beigefügt ist eine Audio-CD, auf der man die erwähnten längeren Textmontagen anhören kann. Das ist insofern eine sehr gelungene Idee, als diese Texte einen assoziativen Zugang zu den „Hungerkünstlern“ eröffnen und sich, wie Kathan selbst schreibt, für ein „beiläufiges Hören“ eignen. Allerdings ist dieses Buch sicherlich nur für LeserInnen geeignet, die bereit sind, zugunsten der assoziativen Annäherung auf eine durchgehende rationale Argumentation zu verzichten und die sich nicht von der mitunter anstrengenden Widersprüchlichkeit und Exzentrizität der behandelten Personen, die durch Kathans Zurückhaltung bezüglich Wertungen und Vereinfachungen noch betont wird, abschrecken lassen.

Bernhard Kathan Hungerkünstler
Essay.
Hohenems: Limbus, 2010.
210 S.; geb.
ISBN 978-3-902534-39-2.

Rezension vom 12.09.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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