Konrad geht in seinem Essay auch auf die Vorgeschichte des Roten Wien ein. „So umstritten Karl Lueger als Person bis heute ist, […] so ist doch trotz der reaktionären und antisemitischen Grundhaltung sein Beitrag zur kommunalen Modernisierung Wiens beachtlich“ (S. 21), heißt es da. Das ist ein häufig wiederholtes Missverständnis. Ende des 19. Jahrhunderts mussten die Metropolen in ganz Europa ihre Verwaltungs- und Organisationsstrukturen modernisieren. Das hatte mit dem Wachstum der Städte zu tun, mit veränderten Hygiene-Anforderungen und mit technologischen Entwicklungen wie Elektrifizierung, neue Verkehrs-, Gas- und Wasserversorgungssysteme. In Wien hatten schwache Bürgermeisterfiguren in den Parteienkämpfen des sich völlig aufreibenden Liberalismus kaum stabile Mehrheiten gefunden, vieles musste daher in Luegers Amtsperiode nachgeholt werden, was schon lange überfällig war. Schnitzler etwa war im März 1901 fasziniert von der elektrischen Beleuchtung der gesamten Stadt Genua, in Wien startete das neue Lichtsystem erst im darauffolgenden Jahr auf der Ringstaße, während in St. Moritz schon seit 1877 elektrische Straßenlampen strahlten. Einen wirklich bleibenden Stempel drückte Lueger Wien nur in moralischer Hinsicht auf: Durch ihn wurde antisemitische Hetze salonfähig und fester Bestandteil der politischen Rhetorik. Auch dass Lueger das produktive kulturelle Milieu des Wiener Fin de Siècle – dem Konrad auch Billy Wilder zurechnet, geboren 1906 – „zumindest nicht behindert“ (S. 21) habe, ist zu hinterfragen, wie man in den Tagebüchern von Marie von Ebner-Eschenbach oder Arthur Schnitzler nachlesen kann.
Wiederentdeckt wurde diese kulturelle Moderne um 1900 erst in den 1980er Jahren, oft von im Ausland tätigen Wissenschaftlern wie Carl E. Schorske, den auch Konrad würdigt. All diese Forschungsarbeiten über das Fin de Siècle genauso wie jene über die ‚Goldenen Zwanziger Jahre‘ erfolgten – und erfolgen meist bis heute – stets mit dem Stadtplan des imperialen Wien in der Hand bzw. im Kopf. Deshalb kommen zentrale Aspekte des Modernisierungsprozesses – Frauenbewegung, Sozialreportage, bürgerliches Stadttheater oder eben die Errungenschaften der sozialdemokratischen Stadtregierung – gerade im Kontext Wien nicht oder allenfalls am Rande in den Blick.
Auch aus diesem Grund sind Publikationen wie die vorliegende so wichtig. Helmut Konrad, ein ausgewiesener Kenner der Materie, würdigt die Errungenschaften des Roten Wien auf allen Ebenen. Zweifellos hatte der Aufbau dieser „umfassenden Gegenkultur“ (S. 44) auch paternalistische Züge, doch mit aktuellen Vorstellungen von „Selbstbestimmung“ ist dem damaligen Kampf gegen das Massenelend mit Wohnungsnot, hoher Kindersterblichkeit, Mangelernährung und Massenarbeitslosigkeit nur bedingt zu begegnen.
Der zweite Aufsatz des Bandes von Gabriella Hauch schreibt der Geschichte des Roten Wien die Frauenfrage ein – in ihrer ganzen Ambivalenz. Ohne Zweifel war die Sozialdemokratie der Ersten Republik eine patriarchale Bewegung, deren soziale und politische Konzepte zur „Familialisierung der Arbeiterschaft“ und damit zu einer Fortschreibung der „hierarchischen bürgerlichen Geschlechterordnung“ (S. 76) beitrugen. Aber das historische Verdienst bleibt nicht nur die Modernisierung vieler Lebensbereiche sowie die Existenzsicherung für die breite Masse der Bevölkerung, sondern auch das Eröffnen eines „Möglichkeitsraum[s], in dem alternative Ideen und Modelle entwickelt werden konnten“ (S. 76).
Das „Experiment des Roten Wien [ist] nicht gescheitert, es wurde zerstört“ (S.47). Es war die systematische Frontstellung der österreichischen Bundesregierung, die das Rote Wien mit ökonomischen Mitteln wie dem Finanzausgleich, aber auch mit den exekutiven Kräften von Polizei und Militär wie im Juli 1927 und dann final im Februar 1934 zerstörte, begleitet von einer permanenten publizistischen Hetze. Schon deshalb sollte das schmale Büchlein eine Pflichtlektüre für eine junge PolitikerInnen-Generation sein, die Lenin schon mal mit Stalin verwechselt oder vergisst, dass im christlichen Symbol des Kreuzes der religiös motivierte Antisemitismus wurzelt, und die sich vielleicht der Gefahren einer aggressiven Lagerpolitik nicht immer bewusst ist.
Das Wissen um die historische Notwendigkeit dieser Gedächtnisarbeit mag auch der Hintergrund sein für die Neuauflage von Helmut Weihsmanns Führer „Das Rote Wien“ aus dem Jahr 1985 bzw. 2002. Einem fast 200 Seiten langen Aufsatzteil über Architektur und Kommunalpolitik von 1919 bis 1934 folgt ein nach Bezirken geordneter und reich bebilderter Führer durch die bautechnischen Leistungen der Periode. Der Schwerpunkt liegt auf der Architektur des Roten Wien, aber der Blick bleibt offen für zeitgleich entstandene Bauten anderer Bauträger. Etwas schade, dass der Autor dabei auf eine systematische Überarbeitung verzichtet hat. Denn einige der im Rundgang vorgestellten Bauwerke sind mittlerweile abgerissen, etwa das Bad in Rodaun, das trotz des Eintrags „Generalsanierung (2000) in gleicher Nutzung“ (S. 466) leider nicht mehr existiert.
Im Aufsatzteil finden sich viele interessante Hinweise und auch Korrekturen an tradierten Urteilen über die kommunalen Leistungen des Roten Wien. So verweist Weihsmann ausführlich auf die Pragmatik, die bei dem Gesamtprojekt des Wohnungsbaus handlungsleitend war. Dazu gehört das konsequente „Ausweichen vor einer modernen Bautechnologie“ (S. 133), um mit möglichst arbeitsintensiven Verfahren dem politischen Dauerthema Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Oder die prinzipielle Entscheidung für Großhofanlagen, die ökonomisch wie raumtechnisch motiviert war und nicht einem prinzipiellen Unwillen der „Baubürokratie“ (S. 100) entsprang. Natürlich ging es den Bauherren des Roten Wien nicht primär um die „Selbstverwirklichung der Bewohner“ (S. 51), was damals eben noch kein zentrales Diskursthema war. Faktum ist auch, dass die Wohnungen aus heutiger Sicht klein sind und die einheitlichen Grundrisse lassen sich als Sinnbild der „Domestizierung“ (S. 93) im Sinne einer Einübung der Arbeiterschaft in kleinbürgerliche Lebensformen interpretieren – aus der Zeit heraus bleibt aber wohl der Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen für alle das gewichtigere Argument.