Spitzers besonderes Forschungsinteresse gilt marginalisierten Gruppen und dem Prozess der Assimilation sowie der Funktion der Erinnerung. Dieses Interesse und eine besondere persönliche Anteilnahme liegen dem vorliegenden Band zugrunde. Leo Spitzer wurde 1939 in Bolivien geboren als Kind österreichisch-jüdischer Einwanderer, die nur wenige Monate zuvor gezwungen wurden, ihre mitteleuropäische Heimat fluchtartig zu verlassen. So „ist dieses Buch zwar einerseits das Werk eines Historikers, enthält aber andererseits auch persönliche Erinnerungen“, Erinnerungen an die Kindheit in Bolivien, an einen Österreichbesuch, an eine Reise mit den Kindern an die Schauplätze der Jugend. Dieses Involviert-Sein in den Forschungsgegenstand ist immer reflektiert, nie bloß naiv konstatierend. Gleichzeitig erhält die Studie dadurch einen Grad an Anschaulichkeit, wie sie eher für ein literarisches Werk typisch ist als für ein Sachbuch. (Aber vielleicht ist diese Kategorisierung überhaupt obsolet.)
Nachdem Spitzer in gedrängter Form die Verhältnisse in Österreich und Deutschland in den dreißiger Jahren und damit die Ursachen der Flucht dargestellt hat, zeigt er am Beispiel seiner Tante Ella, einer ganz ungewöhnlichen und besonders unglücklichen Frau, wie in der Fluchtsituation die Familie als letzter Rettungsanker gesehen wird, an den frau / man sich klammern kann, und welche persönlichen Opfer das mitunter bedeuten konnte. Wer diesen Abschnitt gelesen hat, gewinnt vielleicht auch eine neue Perspektive zu Fragen der Familienzusammenführung von heute in Österreich lebenden Einwanderern. Generell ist dieses Buch ein Beleg dafür, dass gute Geschichtswissenschaft dazu beiträgt, die Gegenwart besser zu verstehen.
Was heißt es, Flüchtling zu sein? Leo Spitzer beantwortet die Frage anhand von Memoiren, Briefen, Fotografien, künstlerischen Darstellungen und umfangreichen Videoaufzeichnungen mit Berichten von Flüchtlingen und Zeitzeugen. Spannend und höchst informativ habe ich empfunden, wie Leo Spitzer die Fotoalben seiner Familie analysiert (die Bilder sind im Buch abgedruckt). Plötzlich wird verständlich, warum manche Fotos von Flüchtlingen ausschauen wie Urlaubsfotos.
Das Leben in Bolivien, die Konfrontation mit einer radikal anderen Kultur und die Unfähigkeit mit ihr wirklich zu kommunizieren, das Experiment des jüdischen Agrarbetriebes „Buena Tierra“, die Aktivitäten der Nazis in Bolivien, all das ist auch Thema dieses Buches. Daneben aber auch hier die Analyse von Phänomenen, die ganz gegenwärtig (bei uns heute mit kurdischem, türkischem, … Vorzeichen) sind: die Aktivitäten diverser deutscher und österreichischer Kulturvereine, die Bedeutung einer Österreich-Nostalgie für die Flüchtlinge als Katalysator eigener Identität.
Und immer wieder die Frage nach der Erinnerung. Es wird deutlich, dass sie es ist, die die Vergangenheit an die Gegenwart knüpft. Leo Spitzer versteht es auch zu zeigen, dass Erinnerung nicht ein rein individuelles oder soziales Phänomen ist, sondern vielmehr ein kulturelles Produkt, das selbst eine Geschichte hat. Sie erweist sich auch als eine Möglichkeit, mit dem erlittenen Trauma des erlittenen Unrechts durch die Nationalsozialisten zurecht zu kommen. Sie trägt dazu bei, den Überlebenswillen zu bewahren und hilft den neuen Anfang zu wagen. Eine bedeutungsvolle Lektion, die einmal mehr belegt, wie wertvoll der „Prozess der Weitergabe, der Überlieferung an sich ist: eine Fähigkeit, die es wert ist, gepflegt – und weitergegeben zu werden.“ Wenn kümmert’s da, ob diese Fähigkeit ein Literat oder ein Historiker vorführt.