Der lateinamerikanische Andenstaat Bolivien spielte für Hitlerflüchtlinge als dauerndes Aufnahmeland eine marginale Rolle. Aufgrund der liberalen Immigrationspolitik Ende der dreißiger Jahre ließen sich über 20 000 Immigranten zwischen März 1938 und Ende 1939 vorwiegend in den urbanen Zentren des Landes, in La Paz oder in Cochabamba nieder. Einige Jahre zuvor hatte der Minenbesitzer Mauricio Hochschild kurzlebige jüdische Kolonisationsprojekte auf urbar zu machendem Land organisiert, 1939 ein Hilfskomitee ins Leben gerufen. Bolivien fungierte als temporäres „Hotel“: das Gros der Flüchtlinge migrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA oder in lateinamerikanische Staaten weiter, die über dichtere Netzwerke von europäischen Immigranten und Organisationen sowie über schichtkonforme Arbeitsmöglichkeiten verfügten.
Auch die Familie Leo Spitzers, eines US-amerikanischen Historikers österreichischer Herkunft und Emigranten der „zweiten Generation“, entschied sich nach sechsjährigem Aufenthalt im Hotel Bolivia für eine Weiterreise in die USA. Die gleichnamige Publikation resultiert zunächst aus der langjährigen Rekonstruktion der Familiengeschichte des in La Paz 1939 – kurz nach der Ankunft seiner Familie – zur Welt gekommenen Autors. Das Flüchtlingsschicksal der Familie Spitzer, die nicht aus dem Wiener Großbürgertum stammte, sondern im burgenländischen Rechnitz vom Kleinhandel gelebt hatte, bietet den Ausgangspunkt für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bolivien als Aufnahmeland. Didaktisch geschickt werden die einzelnen Rechercheschritte und Wahrnehmungsphasen der Reise in die eigene Familienvergangenheit transparent gemacht, wird dem Leser eine Melange aus Familienbiografie und Objektivierung durch kritische Quelleninterpretation geboten. Spitzer montiert dabei unterschiedliche Textsorten, die er durch den Wechsel des Schrifttypus hervorhebt. Im kursiv gedruckten Kapitel „Ella“ etwa versucht er aus dem Geflecht von familiären Mythen und Gerüchten Gründe für den Selbstmord seiner Tante zu eruieren, die durch ihre Verlobung in der Schweiz ihrer gesamten Familie die lebensrettenden Visen nach Bolivien beschaffen konnte. Der Freitod Ellas nach ihrer Scheidung im Aufnahmeland resultiert für Leo Spitzer aus einer weiteren, diesmal gescheiterten Flucht: aus familiären und gesellschaftlichen Zwängen innerhalb einer kleinen Emigranten-Community.
Zur Dekonstruktion von Mythen und zur Rekonstruktion des familiären Gedächtnisses über die Emigration zieht der Historiker signifikante Symbole wie Fotos und Alben heran. Sie sind Beispiele selektiver Wahrnehmung und piktografische Kompositionen von Elementen der Erinnerung an die mehrwöchige (Schiffs-)Reise nach Bolivien. Da die Fotos selbst die Gefährlichkeit der Flucht keineswegs festhalten, sondern eher den Eindruck einer Vergnügungsreise in ein exotisches Land vermitteln, kontrastiert Spitzer die Bildanalyse mit Berichten über den Untergang des vermutlich torpedierten Flüchtlingsschiffes Orazio auf dem Weg nach Chile, bei dem 114 Menschen ihr Leben verloren. Die symbolischen Manifestationen der Flüchtlingsidentität nennt Spitzer das „unsichtbare Gepäck“ des kulturellen Gedächtnisses der Emigranten und Emigrantinnen. Reliquienfunktion für das verlorene Österreich erhielt etwa ein Gemälde des Stephansdomes, dem auch in der New Yorker Wohnung der Eltern Spitzer ein zentraler Platz im Wohnzimmer eingeräumt wurde, für den Sohn diente es dagegen als Verbindung zur zentraleuropäischen Herkunft seiner Eltern. Der Stephansdom, die architektonische Manifestation katholischer Macht, wurde auch von den österreichischen Emigranten unterschiedlicher politischer Couleurs und konfessioneller Bindungen zu einem zentralen Symbol österreichischer Identität erhoben. Hymnen sind bedeutende Elemente nationaler Inszenierungen. Der Autor und Schauspieler Georg Terramare komponierte nach der Melodie von Beethovens Eroica die „Hymne der freien Österreicher“, da die Haydn-Melodie von den Deutschen „okkupiert“ worden war. Dirndl und Lederhosen, vom austrofaschistischen Ständestaat heftig verwendete Symbole des Bodenständigen, wurden 1947 auf dem Österreichfest in La Paz als Bestandteile kulturellen Gedächtnisses getragen, um die Wiedererlangung des unabhängigen Österreich und damit nationale Kontinuität zu zelebrieren. Spitzer erinnert sich der Symbole seiner eigenen sprachlichen und kulturellen Sozialisation in La Paz, der deutschsprachigen Kinderbücher Max und Moritz, Struwwelpeter und der Märchen der Gebrüder Grimm.
Fotos halten in ihrer Funktion als Texte den von eurozentristischer Weltsicht geformten Blick auf die autochthone Bevölkerung fest. So dokumentieren Aufnahmen von „A day trip to lake Titicaca“ und Interviewaussagen von Zeitzeugen, wie Lateinamerikabilder der Romantik weitertradiert wurden; die indigene Bevölkerung der Quechua und Aymara galt als Teil einer exotischen Natur, als „unzivilisiert“. Wie bereits Spitzers Historikerkollegin Gerda Lerner in ihren Arbeiten festgestellt hat, erhöhten die Emigration und der Akulturationsprozeß im Aufnahmeland nicht unbedingt die Sensibilität der Europäer für marginalisierte Gruppen im Aufnahmeland. Dass nicht nur die bolivianische Gesellschaft, sondern auch die der europäischen (jüdischen) Emigranten in beruflicher und konfessioneller Hinsicht eine äußerst heterogene und konfliktbeladene war, wird von Spitzer bereits eingangs betont. Ressentiments von assimilierten österreichischen Juden gegenüber den Ostjuden transferierte man ins Aufnahmeland.
Der Autor richtet seine Publikation zunächst an ein US-amerikanisches Publikum. Das zweite Kapitel fasst die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe in Österreich ab dem März 1938, die Organisation der Auswanderung und die Schwierigkeit der Visenbeschaffung zusammen. Hotel Bolivia präsentiert sich darüber hinaus als vielschichtiges Buch, das die Komplexität einer Exilsituation, sich verändernde politische Konstellationen im Aufnahmeland, Kulturtransfer, Lebensbewältigung und kulturelle Produktion in einer vielschichtigen Emigranten-community, den gelegentlichen Kontakt mit eingewanderten Nationalsozialisten, Antisemitismus in Bolivien sowie Akulturationsphänomene analysiert. Die Anwendung der Erkenntnisse der Gedächtnisforschung, die der „culture of memory“, den Symbolisierungen und Inszenierungen des Gedächtnisses Rechnung trägt, gibt dem Band eine neue methodische Perspektive.
Der Wechsel zwischen (auto)biografischen Textabschnitten und den historischen Analyseteilen ist transparent und nachvollziehbar. Trotz der Einflechtung persönlicher Zugänge bleibt Spitzer nüchtern und gleitet nicht ins Sentimentalische ab. Es bleibt zu hoffen, dass Hotel Bolivia in deutscher Übersetzung erscheint.
Ursula Prutsch
20. August 2001