#Roman

Horak am Ende der Welt

Jan Kossdorff

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

Jakob Horak hat die Sommer seiner Kindheit und Jugend im Haus seiner Großeltern in Heidenholz, einer Dreitausendseelengemeinde im nördlichen Waldviertel, unweit der tschechischen Grenze, verbracht. Mit zehn Jahren lernt er Marianne kennen, die wie er in der „Teich-Clique“ ist. Mit fünfzehn kommen sie zusammen, mit sechzehn haben sie Sex.

Marianne entstammt einer Bauernfamilie, hat eine „freche Schnauze“, einen starken Willen und ist das hübscheste Mädchen im Ort. Sie vereint all das in sich, was Jakob an einer Frau sehen will. Dementsprechend sind es „die aufregendsten fünf Sekunden (s)eines Lebens“, als Jakob das erste Mal mit ihr schläft. Nicht nur ist er für die Präservative fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zur Esso-Tankstelle nach Waidhofen gefahren, sondern er hat ein solches, um sich daran zu gewöhnen, auf der Heimfahrt auch getragen.
Obwohl total in Jakob verliebt, hat Marianne als konservativ geprägtes Bauernkind eine „klare Schablone im Kopf“, die (was die Wahl des Lebenspartners betrifft) keine gemeinsame Zukunft mit ihm vorsieht. Erst später wird ihr klar, dass sie in einer Beziehung mit Jakob so frei hätte sein können, wie sie es sich gewünscht hat. Aber da ist der, um nicht mehr nachdenken zu müssen, ob er Marianne nicht eigentlich mehr liebe, in eine Ehe mit Franziska geflüchtet, beginnt im Verlag ihres Vaters zu arbeiten, studiert ein wenig Theaterwissenschaft und schreibt einen Roman und ein Theaterstück, während seine Frau halbtags in der Universitätsbuchhandlung arbeitet und Skripten zusammenstellt. Die beiden haben eine zugige, abgelebte Wohnung in der Burggasse in Wien und wenig Geld.

Als 1999 die schwarz-blaue Regierung Österreich „mit reaktionärem Gedankengut in die Vergangenheit zurückschickt“ und gleichzeitig die New Economy und mit ihr die ganze bunte Dotcom-Szene untergeht, entsteht in ihm die Idee für einen Roman über einen träumerischen Protagonisten, der die Welt einmal als „wildes Comic“, als „Shakespeare-Stück“ oder „monströse Dystopie“ erlebt. Er schreibt ihn in sieben Wochen in der Hütte von Franziskas Onkel am Traunsee.
Das Buch wird ein Erfolg. Jakob Horak steigt zum „Posterboy der Millenniums-Melancholie“ auf und ist, als Sohn David auf die Welt kommt, bereits ein Bestseller-Autor.
Obwohl er (außer Bewunderung) von seiner Frau Franziska alles bekommt: Rücksicht, Geduld, konstruktive Kritik und Ideen, stürzt er sich in eine Affäre mit einer Verlagsmitarbeiterin. Er wird geschieden, durchläuft danach alle Stadien der Orientierungslosigkeit und emotionalen Unsicherheit, zieht von Buchparty zu Buchparty, zettelt eine Schmuserei nach der anderen an und avanciert so zum Dauergesprächsthema in der WhatsApp-Gruppe Frauen der Buchbranche.
Nach und nach kommt ihm seine Leser/innen/schaft abhanden. Am öffentlichen Diskurs in den sozialen Medien hat er sich sowieso nie beteiligt. Ein Fall für Stipendien und Preise ist er genauso wenig. Und leider hat er auch noch einen Allerweltsnamen, den sich niemand merkt.
So verwundert es kaum, dass der Verkauf seines neuen Buches (genauso wie der des letzten) mehr schleppend als gut verläuft und Jakob von der Verlagsleiterin als eine Art „Altlast“ gesehen wird.
In dieser mehr vom Prokrastinieren als von großen Würfen geprägten Schaffensphase lernt er auf einem Schreibseminar, das er am Hof seines Freundes und Agenten Manfred (einem Nebenerwerbsbauer) im Burgenland abhält, die neunzehn Jahre jüngere Maja aus Saarbrücken kennen, die eckig, widerborstig und ungestüm ist, kellnert, ein bisschen Theater spielt und daran denkt, ein YouTube-Star zu werden.
Eineinhalb Jahre leben die beiden jetzt schon in einer Beziehung. Jakob ist gerade auf Lesereise, die ihn in Buchhandlungen, Mehrzwecksäle und Gemeindehäuser verschlafener Kleinstädte in Österreich und Bayern führt. Maja begleitet ihn. Es ist Sommer 2018.

In Heidenholz, dem Wohnort seiner inzwischen verstorbenen Großeltern, findet die letzte Lesung der Tour statt. Hier wollen die beiden auch entscheiden, ob sie ihrer kleinen, unsentimentalen Liebe noch eine Verlängerung gewähren.
Recht günstig sieht es dafür nicht aus, erfährt Jakob doch, dass seine Exfrau wieder heiraten will und seine Verlegerin lieber Majas Erstling Übungsmädchen herausbringen möchte als seinen neuen Roman.
Mit angeknackstem Selbstwert schwingt er sich auf sein altes Jugendfahrrad; hilft einem Psychotherapeuten beim Entrümpeln des Hauses seiner verstorbenen Mutter; wird vom Komitee für Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Falls des Eisernen Vorhangs zwischen Österreich und Tschechien angesprochen, ob er nicht der Mann sein könnte, der den Europa-Gedanken und die Botschaft von Freiheit und Verantwortung unter die Menschen bringt; begegnet in Reintal seiner Jugendliebe, die den dortigen Campingplatz samt angeschlossenem Hanfmuseum leitet; besucht seine Großkusine Grete, die als Kellnerin arbeitet, Yogakurse abhält und ein Kulturzentrum führt; und ist sich alles andere als sicher, wie es mit ihm weitergehen soll; umso mehr, als er mit Marianne ins „warme Bad einer wiederaufgekochten Beziehung“ springt.
Dabei wird ihm immerhin klar, dass er, um endlich ein gutes, normales Leben führen zu können, einen soliden, bodenständigen Menschen braucht.

Jan Kossdorff erzählt diese Selbstfindungsradfahrt eines Schriftstellers, der zwar „dem Zeitgeist beim Rumturnen in seiner Hüpfburg“ zusieht, aber nichts versteht und daher lange den Eindruck erweckt, als würde er die Füße nicht auf den Boden bekommen, mit einer präzisen Leichtigkeit, die beeindruckt.
Der Autor changiert in seinem auf sechzehn Kapitel angelegten Roman über Jakob Horak, der auf den Fünfziger zugeht und eine Geschichte hat, die aus Erfolgen und glücklichen Zeiten, aber eben auch aus beruflichen und persönlichen Niederlagen besteht, gut zwischen Tiefgründigkeit und Albernheit.
Seine Abhandlung eines Schriftstellerlebens ist ein Buch über Männergefühle, das auf witzige, intelligente Weise zur Sprache bringt, warum Männer Frauen wütend machen und wie sie es andererseits schaffen, Glück, Freude und Leidenschaft in ihnen wachzurufen. Darüber hinaus widmet es sich der Frage, ob man künstlerischen Selbstwert als größten Besitz betrachten kann, warum die meisten Autoren gleichzeitig Träumer und Diktator sind; und es entlarvt „die Freiheit als spröde Geliebte, die uns keine Hinweise gibt, ob wir das Richtige mit ihr tun“.

Der gehaltvolle, gut zu lesende, vielschichtige Roman lässt aber auch Gesellschaft, Politik und Kunst nicht außer Acht. Seine Nähe zur Wirklichkeit dokumentiert sich in Beschreibungen der Waldviertler Landschaft, in der „alles wächst und blüht“, in Rückblenden auf die Haider-Schüssel-Regierung, die Flucht von Jiri Rybar oder kritischen Bemerkungen über „Horror Clowns“ an der Macht, die nicht verhindern, dass unser Planet entweder „ersaufen oder verbrennen“ wird.
Genauso beschäftigt er sich mit dem Selbstverständnis des Künstlertums und hält Spitzen gegen Erwin Wurm oder Valie Export bereit, die sich anscheinend vor dem Talent anderer „gefürchtet“ hat. Und er lässt in einer Traumsequenz den „Geist der vergangenen Sommer“ auferstehen. Eine Vergangenheit, in der die Großeltern des Protagonisten in Rollstühlen sitzen und er nach seinem ersten Buch nichts so sehr gewollt hat wie den Erfolg, sodass „für nichts anderes Zeit geblieben ist“. Das holt er jetzt nach. Anstatt sich in gedanklichen Höhenflügen zu ergehen, stellt er sich den inneren Wahrheiten, die er im Grunde seines Herzens eigentlich immer gemocht hat, und nimmt (neben einigen Blessuren nach einem Sturz) viele Radkilometer durch das tschechisch-österreichische Grenzland in Kauf.
Nichts kann ihn davon abhalten, dieses Ein Sommer wie früher-Gefühl zu entwickeln und zur größten Weisheit seines Lebens vorzustoßen: „einfach nicht so verdammt dahinter her“ zu sein, um das zu kriegen, was er will, sondern das zu nehmen, was da ist.
Diesen Erkenntnisgewinn schildert der Autor in frischen, stimmungsvollen, heiteren Bildern und einer guten Mischung aus Selbstironie und Ernst, was zu einem großen Lesevergnügen führt.

Jan Kossdorff Horak am Ende der Welt
Roman.
Wien: Milena, 2021.
242 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-77-0.

Rezension vom 21.12.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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