Sepp Mall, geboren in Graun in Südtirol, erzählt in diesem leichtfüssigen Roman, der durch knappe Dialoge und schlichte beschreibende Passagen besticht, die längst vergangene Liebesgeschichte von zwei SüdtirolerInnen in Wien, dem Psychologiestudenten Jakob und der Germanistikstudentin Marilyn und spart dabei die dunklen Facetten der ersten großen Liebesbeziehung nicht aus. Mall leuchtet den Komplex von familiären Bindungen aus, die nicht in das Schema der geschlossenen Kleinfamilie passen: Die Beziehung zwischen Emma und ihrem Vater ist von Skepsis, Verunsicherung und uneinheitlichen Erinnerungen geprägt, denn Jakob war schon nicht mehr Teil dieser Familie, als Emma auf die Welt kam. Die Autofahrt über die Pässe von Österreich nach Südtirol mit Emma wird zu einem Balanceakt „im Rückwärtsgang“ (S. 41) für Jakob, der in dieser brisanten Situation versucht seiner Vaterrolle gerecht zu werden und zugleich die gescheiterte Liebesbeziehung und ihr dramatisches Ende aufzuarbeiten. Die Auflösung dieser Beziehung wird mit jeder Seite und jedem Kapitel schlüssiger. Im Gegensatz dazu verläuft die sich anbahnende Annäherung zwischen Vater und Tochter unsystematischer ab, sie endet mit einem knappen „vielleicht“ (S. 202) als Antwort auf die väterliche Einladung nach Wien.
Jakob und Marilyn waren in Südtirol SchulkollegInnen, an der Wiener Universität nahm eine intensive Liebesbeziehung ihren Anfang. Viele Fragen über die Mutter kann der Vater seiner Tochter dennoch nicht beantworten, beispielsweise die über den Ursprung des Namens Marilyn: „Marilyn war nicht die einzige Mary-Maria im Gymnasium, und vielleicht war deshalb aus Mary Marilyn geworden. Irgendjemand hatte wohl nicht immer nachfragen wollen, welche Mary von den dreien oder vieren denn nun gemeint sei.“ (S. 44-45) Marilyns Versuche, im studentischen Wiener Umfeld ihre Herkunft vom Südtiroler Bauernhof durch besonders bürgerliche Kleidung zu verbergen, geht mit ihrer strikten Trennung der beiden Welten einher. Jakob, in Bozen aufgewachsen, fällt es leichter, seine neue Heimat Wien und seine Herkunftsstadt miteinander in Einklang zu bringen, für den Zwiespalt seiner Freundin bringt er kaum Verständnis auf. Eine Schlüsselszene für den nahenden Bruch der Liebesbeziehung nimmt zweifelsohne eine Konfrontation Marilyns mit Jakob während eines sommerlichen Aufenthaltes in Südtirol ein. Er gehe hier mit ihr wie mit einer Fremden um, wirft Marilyn ihm vor. Jakob gesteht ein: „Eine fremde Frau, ja. Ich kenne dich und kenne dich nicht. (…) Das ist nicht zu verstehen.“ (S. 110). Daraufhin entgegnet sie gelassen, ihr stelle sich der Zwiespalt ebenso dar. “ „Es ist, als wären das zwei Welten“, sagt sie, „die eine in Wien, du, mein Studium, und die andere dort oben. Der Bauernhof, meine Eltern, meine Geschwister, die Arbeit auf den Wiesen oder im Stall.“ (S. 111) Der Bauernhof dort oben – hoch über allem. Der unter marxistischen StudentInnen vernetzte Jakob kann die Intensität dieses Identitätskonflikts nur erahnen. Als seine Freundin ihn nach einem tragischen Zwischenfall verlässt, um die Wiener Wohnung gegen den Südtiroler Hof zu tauschen, verliert er sich in den Freizeitangeboten der Metropole, Kino- und Barbesuchen, bis zur kompletten Ermüdung.
Neben Fragen der Herkunft und Identität legt der Roman die komplexe Qualität von Liebesbeziehungen offen, die Halt geben, jedoch von Macht und Ohnmacht geprägt sind. Nachdem ein Freund Jakob mit dessen Verlassenwerden konfrontiert, antwortet dieser in seinem Ehrgefühl empfindlich getroffen: „Das kann sie sich gar nicht leisten““ (S. 207). Die Bindung der ungleichen PartnerInnen sorgt für Halt und ein Gefühl der Verbundenheit fern von Südtirol. Der Roman portraitiert somit nicht allein, wie vom Verlag am Buchrücken angekündigt, Marilyns Existenzkampf zwischen Bergwelt und Metropole, sondern zeichnet ebenso Jakobs Sicht der Dinge nach. Ihn begleitet die Leserin durch seine studentischen Jahre und erlebt ihn im Umgang mit der „neuen“ und der „alten“ Familie.
Der Handlungsstrang der Gegenwart ist im Jahr des großen Tsunami im Indischen Ozean zu Weihnachten 2004 angesiedelt. Als Jakob nach der Konfrontation mit seinen Erinnerungen am Ende des Romans wieder beim idyllischen Chalet ankommt, geht es Marilyn gesundheitlich bereits besser. Ein Vergleich zwischen den inneren Unruhen und den äußeren Turbulenzen liegt nahe: „Der Tsunami war über Marilyn hinweggebraust, über Emma und in bestimmter Weise auch über ihn, und hatte kaum Schaden angerichtet. Zumindest nichts, was nicht wiedergutzumachen wäre.“ (S. 212) Anders als die Naturkatastrophe, die zehntausende Todesopfer zur Folge hatte, kommt Jakob erleichtert wieder bei seiner Familie an. Die Schicksalsschläge haben ihn nur vorübergehend aus der Bahn geworfen.
Raffiniert werden im Roman Hoch über allem die beiden auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen angesiedelten Erzählstränge miteinander verknüpft, die Vaterfigur Jakob ist das verbindende Element. Die glatten Übergänge zwischen den Strängen entsprechen der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, sie erlauben den LeserInnen kurze Momente der Orientierungslosigkeit in dem reich mit Details und Interpretationen ausgestatteten Roman. Über weite Strecken prägt ein abwechslungsreiches und kunstvolles Spiel mit Mosaikteilen aus Erinnerungen und Gegenwart den neuen Roman Sepp Malls.