Dazwischen befinden sich schmale einhundertfünfzig Seiten Literatur, die sich auf zehn jeweils ganz unterschiedlich aufgebaute kleine Erzählungen verteilen. Unterschiedlicher auch könnten die darin handelnden Figuren kaum sein, sie sind alt, jung oder gar noch Kinder, sie sind Frauen und Männer, gehen den unterschiedlichsten Beschäftigungen nach. Ebenso wenig ist eine Konstante in Bezug auf Zeit oder Ort auszumachen, die Geschichten umspannen mehrere Jahrhunderte, und sie spielen in Berlin und der inneren Mongolei. Was all die vielfältigen Epochen, Charaktere und Szenerien rund um den Globus miteinander in Verbindung treten lässt, ist der Titel dieser Prosasammlung der Wahlwienerin Alexandra Bernhardt: „Hinterwelt“. Der Untertitel „Aus einem Spiegelkabinett“ lässt zunächst nur vage ahnen, womit die Leserschaft es in diesen Texten zu tun bekommt. Flankiert wird diese Ahnung immerhin von einem kryptischen lateinischen Zitat des Alain de Lille, eines Zisterziensermönches des 12. Jahrhunderts, welches sich in etwa so übersetzen ließe: „Ein jegliches Geschöpf dieser Welt ist, wie ein Buch oder Bild, eine Spiegelung für uns“.
Die Erzählungen haben jedoch nur am Rande so etwas wie einen metaphysischen oder überhaupt allgemein-philosophischen Charakter im engeren Sinne. Ihr verbindendes Element ist vielmehr ein gewisses Prinzip des Phantastischen, welches allen versammelten Texten innewohnt. Dieses Phantastische kommt in der ersten Geschichte, „Anschluß“ betitelt, als noch eher vage empfundene Bedrohung daher: Eine werdende Mutter ist, offenbar im Jahr 1938 (die Einverleibung der „Ostmark“ in das Hitler-Reich hat gerade stattgefunden) und ganz gegen ihren eigenen inneren Widerstand mit ihrem Mann vom Taunus nach Thalweg an der Mur unterwegs zu ihrer „slawischen Mischpoche“, wie der wohlhabende arische Gatte beiläufig bei sich denkt. Stolz wird aus dessen Innensicht über Reichsautobahnen, „wirklich große Zeiten“ und den eigenen „urdeutschen“ Opel Admiral schwadroniert (was freilich noch nicht einmal der historischen Wahrheit entspricht, denn Opel befand sich bereits seit 1931 im Besitz von General Motors), und etwas gönnerhaft verhält er sich seiner an Übelkeit und Ohnmachtsanfällen leidenden Frau gegenüber. Eine rasche Folge von Perspektivwechseln zwischen Mann und Frau spiegelt die eigentliche Verständigungslosigkeit zwischen ihnen wider. Der Kurzbesuch, bei dem die Frau auch wieder die Fremdheit ihrer eigenen Herkunftsfamilie erleben muss, gipfelt in der Nachricht vom Selbstmord ihrer Schwester, die offenbar ungewollt schwanger ins Wasser gegangen ist, was als Unfall deklariert werden muss, „damit der Pfarrer sie begräbt“. Verlogenheit der persönlichen wie der historischen Situation korrespondieren wie selbstverständlich miteinander. Alexandra Bernhardt gelingt es auf wenigen Seiten, ein Maximum an Beklemmung und latentem Horror entstehen zu lassen.
Ginge es nun in diesem Duktus weiter, könnte man noch nicht ohne Weiteres plausibel von phantastischen Geschichten sprechen. Doch Alexandra Bernhardt hat sich die stilistische Wendigkeit erlaubt, ihre jeweiligen Sujets formal und sprachlich auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu literarisieren, was eine Steigerung der Wahrnehmung abseitiger, skurriler und wahrscheinlichkeitswidriger Elemente beim Lesepublikum auf das Wirksamste unterstützt.
So verwendet sie etwa für die Erzählung „Die Katze, der Autor und das Elend dieser Welt“ die Form einer „Kriminalkolportage in drei Aufzügen“, und in der Tat finden sich neben als Zeitungs- und Radiomeldungen gestalteten Einschüben auch dramatische Elemente und vor allem tagebuchhafte Sequenzen des inneren Verfalls des Protagonisten, eines Schriftstellers, der anscheinend das Opfer eines perfiden mythischen Fluches wird. Wiederum wechseln also die Perspektiven, und so werden eine vermeintliche kriminologische Faktenlage, innere Monologe, Interviews mit Nachbarinnen und ehemaligen Kommilitoninnen und die Beweggründe des Täters miteinander kontrastiert. Die asynchrone Darstellung der Ereignisse, die zumindest teilweise offensichtlich unzuverlässigen jeweiligen Erzählinstanzen und eine geheimnisvolle blaugraue Perserkatze, welche sich am Ende von Teilen der Autorenleiche ernährt haben wird, sorgen auch hier für ein grotesk-gruseliges Leseerlebnis.
Spätestens nach der dritten Story, „Der Anschlag“, in welcher ein deutscher Orientalist namens Paul Arber in Huntingtons vielzitierten clash of cultures, den Riss zwischen den islamischen und christlichen Kulturen gerät, schwimmt sich die Bernhardtsche Erzähltechnik frei und offenbart bei aller stilistischer Vielfältigkeit das ihr innewohnende Grundprinzip der permanenten Verunsicherung der Leserschaft: Wäre das Hineingeraten des Protagonisten in islamistische Kreise um ein Bombenattentat auf Djerba über weite Strecken als bloße Verstrickung zu lesen, so lassen einige zitierte Bibelstellen, die stets mit dem formelhaften „Und das Wort des Herrn erging an mich“ eröffnet werden (obwohl ansonsten durchgehend in der dritten Person erzählt wird), den Verdacht entstehen, Arber (auch phonetisch so nah am Araber) könne gar aktiv an Planung und Ausführung des Anschlags beteiligt gewesen sein oder sich zumindest innerlich dazu aufgerufen gefühlt haben. Die Lesarten stehen sich, freilich ohne Auflösung, bis zum Schluss gegenüber.
Dieses Element der Verunsicherung trägt maßgeblich zum Eindruck des Phantastischen in Bernhardts Geschichten bei, ohne dass dabei im eigentlichen Sinne übernatürliche Dinge geschehen. Der Riss auf die andere Seite klafft aber immer wie eine nicht zu übersehende Warnung im erzählten fiktionalen Raum, als wären die Lesenden vorsichtigen Schritts auf dünnem Eis oder moorigem Grund unterwegs durch diesen Prosaparcours.
Bernhardt nutzt mitunter auch historisierende Erzähltechniken, so etwa in „Dem Tod ins Auge“, einem brief-dialogischen „Nachtstück in Hoffmanns Manier“, wie sie es untertitelt, dessen Handlung jedoch in der Gegenwart spielt und sich mit den Traumata einer Organtransplantation beschäftigt. Durch den heute leicht angestaubt wirkenden Schreibduktus des frühen 19. Jahrhunderts erreicht die Autorin wiederum eine Verstärkung des Gefühls der psychischen Beklemmung: die inneren Erlebnisse eines Menschen im 21. Jahrhundert werden weitgehend mit der Sprache von 1820 wiedergegeben, und das funktioniert hervorragend. Der innere Bruch im Text bleibt gleichwohl implizit vorhanden.
So wird die Geschichte von einem italienischen Kardinal des 16. Jahrhunderts, der eine Serie wunderlicher Portraits von sich selbst als Mischwesen zwischen Kind und altem Mann in Auftrag gibt, gleichsam zur Schlüsselerzählung für das Schreiben Alexandra Bernhardts: es geht um die „Leidenschaft für das Experiment und das Unbekannte“, aber auch das bewusste Schuldig-Bleiben einer Antwort auf die immanenten Rätsel, die sich freilich letztlich doch „leicht auf die eine oder andere Art erklären“ lassen.
Wie wunderbar die kleinen Erzählungen darüber hinaus auch zwischen Schwer und Leicht hin und her changieren können wird beispielsweise illustriert durch die fast zärtliche Beschreibung eines betrunkenen Nachtschwärmers, der einer Toten auf einer Parkbank sein Herz ausschüttet. Andererseits bedient Bernhardt dann auch wieder gern einmal eine Tradition der Groteske, wenn sie von ausgestopften Müttern und tiefgekühlten Großvätern berichtet. Das ist kurios und amüsant, erreicht aber nicht die psychologische Dichte der meisten anderen Geschichten in Hinterwelt. Dennoch fügt sich erst auch mit ihnen der Erzählreigen zu jenem Panoptikum des Abseitigen, welches noch lange über das eigentliche Leseerlebnis hinaus in Erinnerung bleibt,