#Sachbuch

Hertha Kräftners Litaneien

Helga Strommer

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Hertha Kräftners knappes literarisches Werk zu vergessen, ist schon deshalb nicht möglich – und damit unterscheidet es sich von jenem ihrer ZeitgenossInnen Herbert Eisenreich oder Jeannie Ebner -, weil (im Vorfeld) zu ihren runden Geburtstagen sich regelmäßig eine Fangemeinde findet, die die Neuausgabe bzw. Publikation ihres Werkes vorantreibt oder Arbeiten zur Autorin präsentiert. So erschien zum 35. Geburtstag die erste Werkausgabe von Otto Breicha und Andreas Okopenko Warum hier? Warum heute? (1963), eine Neuauflage davon unmittelbar vor ihrem 50. Geburtstag (1978), und mit ihrem 70. Geburtstag legten Gerhard Altmann und Max Blaeulich die kühn edierte und literaturwissenschaftlich umstrittene Werkausgabe Kühle Sterne vor.

Zum 75. Geburtstag Hertha Kräftners in diesem Jahr nun erscheint in der Reihe Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland als Band 109 erstmals eine auf einer Diplomarbeit am Germanistischen Institut der Universität Wien basierende Arbeit, die eine literaturwissenschaftlich bislang vernachlässigte werkimmanente Textanalyse unternimmt.

Nach den zahlreichen biografischen und psychologischen, sozialgeschichtlichen und feministischen Interpretationen von Kräftners Leben und Werk konzentriert sich Helga Strommers verdienstvolle Arbeit auf Struktur und intertextuelle Bezüge in den vier Litaneien Kräftners. Entstanden sind diese zwischen 3. Mai und 4. Juni 1950 aus nahezu parallellaufenden Tagebucheintragungen, die auf den zu Jahresbeginn entstandenen Text Beschwörung eines Engels zurückgehen – ein Text, bei dem es bislang nahezu zwingend schien, den Entstehungszusammenhang, nämlich das Verhältnis zu Viktor Frankl (hier S. 34f.)- in den Mittelpunkt zu stellen. Helga Strommer definiert vorerst die Litanei als Reihungsstil, der auf christliche Tradition zurückgreift und auf den Hertha Kräftner durch das Studium einiger Gedichte Georg Trakls aufmerksam wurde (S. 22ff.). Die vier Litaneien dann (sowie bislang unveröffentlichte vergleichbare Prosavorfassungen aus einem Taschenkalender, für deren Faksimile man besonders dankbar ist) behandelt Strommer innerhalb eines strikt gesetzten Rahmens, der sich von der Analyse der Bildkomplexe (Natur / Kultur / Wahrnehmung / Bewegung) und Weltsegmente als Interpretation einzelner Bilder bis hin zur Gestaltung des lyrischen Ich bzw. Du, sowie Metrik, Rhythmus und den markanten sprachlichen Konstituenten erstreckt. Interessant ist es dabei ihren Entschlüsselungen der verschiedenen Phasen des lyrischen Ich bis hin zur Aufgabe seiner Beschwörung zu folgen (S. 95f., 135f.). Und von großem Erkenntniswert erweisen sich die Bündelungen zu einer Art Kräftnerschen Farbenlehre (S. 76f., 103f., 133f.), Botanik (S. 37) bzw. Naturlehre (S. 71, 106, 127), bei der auch die zahlreichen tabellarischen Darstellungen sehr hilfreich sind.

Dennoch konkretisiert sich spätestens hier das Unbehagen angesichts dieser nahezu detailversessenen Studie. Zwar verleiht die straffe Gliederung analog zu der Litaneistruktur Kräftners ihrem Text und der Bilderwelt Halt, zu kurz greift aber eine rein werkästhetische Untersuchung insbesondere dort, wo die christliche Metaphorik und die magischen Beschwörungsrituale rein additiv behandelt werden und eine Interpretation gescheut wird. Denn hier wäre es dann doch notwendig gewesen, die Herkunft und Bedeutung der Kräftnerschen Bilderwelt in ihrem lebensgeschichtlichen Kontext (z. B. Prägung durch burgenländische Kindheit) zu berücksichtigen und diesen Hintergründen nachzugehen. Und es hätte dabei sicherlich nicht geschadet, eine der wenigen eindrücklichen Interpretationen der letzten Jahre zu den Litaneien aus Literatur und Kritik (H. 359/360, 2001) mit einzubeziehen. Denn hier ist diese Verschränkung gelungen ist und das aktive / aggressive Potential zwischen den Zeilen und in den Untertönen konnte so erstmalig benannt werden. (S 107ff.).

Insgesamt bleibt so der ambivalente Eindruck eines losen Neben-/ Nacheinanders zahlreicher Motivkomplexe (u. a. Hände, Leidensbilder, Faszination des Bitteren, Liebessymbole, Sumpflandschaft) und metrisch-rhythmischer Aufbauvarianten. Es wurde mit der Textanalyse viel neues Material freigelegt und bislang wenig wahrgenommene Aspekte (Kinderspiel) erschlossen, eine echte Neulektüre dieser Litaneien wurde aber auch nicht geleistet. Dies hätte Aufgabe einer abschließenden Zusammenschau sein können, in der die Kräftnerschen Bezugsnetze, ihre Produktionspläne oder Schreibstrategien sichtbar geworden wären. Mit etwas mehr Wagemut und Textdistanz wäre der Weg für die Entwicklung von (neuen) Grundzügen einer Kräftnerschen Ästhetik aus dem analysierten Material leicht zu beschreiten gewesen.

Noch befinden wir uns aber im Kräftnerschen Gedenkjahr. Und so kann die Erwartung an eine Veranstaltung weitergegeben werden, die im Literaturhaus Matterburg im November 2003 (wenige Tage vor ihrem Todestag, dem 13. November 1951) stattfinden wird. Das Programm der Arbeitstagung „Hertha Kräftner: ‚Zum Dichten gehört Beschränkung.‘ Ein literarischer Kosmos im Kontext der frühen Nachkriegszeit“ ist unter litma8xfq5ttazj@aon.adz+ft abzufragen.

Helga Strommer Hertha Kräftners Litaneien. Struktur – Thematik – Sprache.
Eisenstadt, 2003.
163 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3 85405-148-4.

Rezension vom 08.09.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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