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Herr Maschine oder vom wunderlichen Leben und Sterben des Julien Offray de La Mettrie

Bernd Schuchter

// Rezension von Birgit Schwaner

Plädoyer für einen Unbequemen

Nach dem Zeichner und Kupferstecher Callot – in Jacques Callot und die Erfindung des Individuums (2016) – erinnert Bernd Schuchter in seinem jüngsten Essay an einen weiteren zwar nicht Unbekannten, doch weithin noch Verkannten der europäischen Geistesgeschichte: den Arzt und Philosphen Julien Offray de La Mettrie. Und damit an einen unbeirrbaren Denker, der mit scharfzüngigem Witz, Ironie und Weitblick seinerzeit so entschieden wie kein anderer gegen jede Form der obrigkeitlichen Täuschung und geistigen Venebelung ins Feld zog.

Einige Eckdaten vorab: 1709 als Sohn eines reichen Tuchhändlers im bretonischen Hafenstädtchen Saint-Malo geboren, studiert La Mettrie nach der Schulzeit (erst bei Jesuiten, dann Jansenisten) in Paris zunächst Philosophie und Naturwissenschaften, anschließend Medizin, Abschluss Doktorat. 1734 geht er nach Leiden, besucht ein weiteres Jahr die Vorlesungen des berühmtesten Mediziners seiner Zeit, Hermann Boerhaave (u.a. der Begründer der klinischen Medizin). Danach: Arbeit als Arzt, eine Reise als Schiffschirurg nach China und Rückkehr nach Saint Malo, dort Landarzt. Er heiratet, wird Vater einer Tochter (ein Sohn kommt 1745 dazu), verfasst medizinische Abhandlungen und übersetzt mehrere Werke Boerhaaves vom Lateinischen ins Französische. Dann wird Saint Malo dem Unsteten zu eng, wohl auch zu dumpf, also bb 1742 wieder Paris, als Leib- und Regimentsarzt zum Herzog von Grammont, Teilnahme an mehreren Schlachten im Österreichischen Erbfolgekrieg. Doch nicht Kriege bringen ihn in Lebensgefahr – sondern sein Denken: 1745 erscheint La Mettries erste philosophische Schrift, Histoire naturelle de l’âme, in der er Intellekt/Geist und Gefühl bzw. die „Seele“ auf körperliche Ursachen zurückführt; 1746 plädiert er in La Volupté u.a. für den glückbringenden Genuss sexueller Freuden und stellt heraus, dass Schuldgefühle zwar anerzogen, doch keineswegs angebracht sind. In seiner Satire Politique du Médecin de Machiavel prangert er eine dünkelhafte Ärzteschaft an und fordert die – bis zur Wiedererkennbarkeit karikierten – angesehensten Ärzte Frankreichs auf, sich endlich in die Spitäler zu begeben, um zu zu heilen, statt zu theoretisieren und nutzlose Rezepte auszustellen; ergo: Das Buch „wird ein Erfolg und La Mettrie ein verfolgter Autor“ (Bernd Schuchter). Ende 1746 flüchtet er, ohne Familie, nach Leiden. Ende 1747 erscheint dort sein bekanntestes Werk L’Homme Machine – und La Mettrie wird jetzt stante pede sogar aus den liberalen Niederlanden ausgewiesen. Über seinen Landsmann Maupertuis – Mathematiker, Philosoph und Leiter der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin – erhält er am Hof Friedrichs des Großen in Potsdam Asyl, wo er bis zu seinem Tod 1751 die Rolle eines königlichen Leibarztes, Vorlesers und gewitzten Gesprächspartners einnimmt. Allerdings veranlassen La Mettries Publikationen selbst den ihm wohlgesonnenen Preußenkönig zur Wiedereinführung der Zensur …

Der Philosoph La Mettrie wird in Nachschlagewerken meist mit wenigen Zeilen abgespeist, versehen mit den Schlagwörtern „Aufklärer“ und „Materialist“ (letzteres erweitert durch verschiedene Adjektive, über die die Fachgelehrten streiten), samt einem Hinweis auf L’Homme Machine (je nach Übersetzung: Der Mensch eine Maschine, Der Mensch als Maschine, Die Maschine Mensch). Vor allem diese Schrift brachte ihm den Spitznamen „Herr Maschine“ ein; zum „Prügelknaben des französischen Materialismus“ (so der Marburger Philosoph F. A. Langen) war er schon vorher geworden.

Als „Materialisten“ bezeichnet man Denker, die die vorhandene Welt und das menschliche Bewusstsein allein aufgrund der wahrnehm- und erforschbaren „Materie“ bzw. „Natur“ erklären und die Existenz eines Gottes als nicht beweisbar verwerfen oder zumindest sehr infrage stellen. Auch die Materialisten der französischen Aufklärung wie Voltaire, Rousseau, Diderot, d’Alembert, d’Holbach u.a. forderten, endlich die – durch wiederholbare Experimente beweisbaren (und die biblische Schöpfungslehre zunehmend ad absurdum führenden) – empirischen Erkenntnisse der Naturwissenschaften zur Basis eines neuen Weltbildes zu machen, das sich u.a. auf die Gleichheit aller Menschen und das allgemeine Recht auf Bildung stützte. Viele waren überzeugt, dass ein atheistischer Staat, der auf diesen beiden Prinzipien aufbaute und den Machtbereich von König und Kirche zumindest stark beschnitt, nicht nur weniger korrupt wäre, sondern auch friedlicher und wohlhabender. Soweit der minimale Konsens. Bezüglich der Gottesfrage oder der Existenz eines übergeordneten, menschlichen Bewusstseins bzw. einer „Seele“ herrschte weniger Einigkeit.

La Mettries Hypothesen – u.a. dass es „im ganzen Weltall nur eine Substanz“ gebe (also ein sterblicher Körper keine unsterbliche Seele haben könne) oder dass Menschen nichts als „Tiere und in aufrechter Haltung dahinkriechende Maschinen“ seien – gingen allerdings selbst den „philosophes“ um Diderot zu weit. Zumal La Mettrie weder an die Vernunft als angeborene menschliche Eigenschaft glaubte, noch an den moralischen Fortschritt einer ganzen Gesellschaft durch Bildung. Er hielt lediglich einzelne Individuen für lernfähig, oder, wie er einmal schrieb: nur die „kleine Zahl derer, die denken wollen und können“.

Kurz: La Mettrie galt bald als – verachtenswerter – Skeptiker. Als einer, der, noch ehe die „Aufklärung“ in der Gesellschaft Fuß fassen konnte, eines ihrer grundlegenden Ziele boykottierte: Denn wer die umfassende Wirkmacht von Vernunft, Bildung und Wissen bestritt, der verwarf auch die notwendige, soziale Utopie eines friedfertigen Staates mit einer aufgeklärten, politisch und moralisch verantwortungsbewussten Bevölkerung. Und der verurteilte mit der „Aufklärung“ quasi deren wichtigstes Instrument zum Scheitern: die von Diderot und d’Alembert herausgegebene Enzyklopädie, die, so Bernd Schuchter, „nichts Geringeres versuchte, als das damals bekannte Wissen zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Der erste Band dieses ebenso engagierten wie finanziell haarsträubenden Projekts erscheint im Jahr 1751, der 35. und letzte Band im Jahr 1780“ (S.74). Doch da – neun Jahre vor der Französischen Revolution – war La Mettrie längst tot. Sein Ruf als „Gottseibeiuns der Aufklärung“ (S.106) indes lebte weiter, während seine Ideen von denen, die ihn, wie Diderot, als „in seinen Sitten und Anschauungen verdorbenen Menschen“ diffamierten, in ihre eigenen Schriften umgetopft wurden, um in der Welt Wurzeln zu schlagen.

Bis heute blieb das Interesse an La Mettrie und seiner Philosophie eher gering, ganz so, als sei er noch nach Jahrhunderten ein Opfer der Propaganda seiner früheren Gegner. Was – so Bernd Schuchter – besser nicht so bliebe, denn: „La Mettrie […] weist in eine Zukunft des Denkens, die weit ins einundzwanzigste Jahrhundert reicht. Sein Holismus schließt auch Tiere mit ein, deren Rechte noch heute missachtet werden; vollkommen klar ist die einfache These, dass es zum Glück des Menschen keine wie auch immer geartete Theologie braucht, die seit Menschengedenken immer nur missbraucht worden ist, den Menschen zu unterjochen“ (S. 160).

Schuchters Herr Maschine oder vom wunderlichen Leben und Sterben des Julien Offray de La Mettrie erinnert eindringlich an den genialen „Querulanten“. Der, wie jeder Freigeist, sozusagen quer zu seiner Zeit stand und dachte, und dessen Schriften wohl aktuell bleiben, bis die Menschheit sich ändert (was La Mettrie aber ausschloss). Entsprechend geht es in Schuchters, vom Braumüller Verlag fein gestaltetem Oktav-Band letztlich weniger um „Leben und Sterben“ La Mettries – wie der Titel nahelegt – als um sein Wagnis, frei zu denken und zu schreiben. Ein Wagnis, das im vorrevolutionären Frankreich einen Gefängnisaufenthalt, ein Todesurteil oder wahlweise das Exil in einer liberaleren Gegend nach sich ziehen konnte. Doch war die Verfolgung von aufklärerischen Autoren – die in der Regel anonym veröffentlichten – damals weder eine Ausnahme noch dem Buchverkauf abträglich.

Bernd Schuchter beginnt, nach einem kurzen Vorspann, seinen Essay mit dem wohl spektakulärsten Ereignis in La Mettries Leben: seinem Tod, angeblich am 11.11.1751 in Berlin, erfolgt durch den Verzehr einer ganzen, getrüffelten Fasanen-Pastete, die vielleicht verdorben, vielleicht vergiftet war. Freilich, si non e vero e ben trovato – gab die Anekdote vom vermeintlich selbstverschuldeten Tod am Karnevalstag doch Gegnern wie Voltaire weiteren Anlass zu Spott und Diffamierungen, die nicht einmal vor La Mettries Ruf als Arzt Halt machten (S. 17). … Aber wie kam es so weit?

In der Folge reflektiert Bernd Schuchter über den „Fall La Mettrie“, fragt, warum gerade dieser Philosoph zu einem „Verfemten“ wurde und flicht, zum besseren Verständnis La Mettries kleine Exkurse zu wichtigen Begriffen, Zeitgenossen und Hintergründen ein. Das Ganze ist durchaus spannend – wenn auch manchmal sehr sprunghaft – aneinandergereiht, als Leser hat man oft den Eindruck, vor einer Bühne zu sitzen, auf der bereits alle am Stück beteiligten Personen, Dinge, Kulissen etc. zugegen sind und abwechselnd von einem ruckhaft bewegten Scheinwerfer erhellt werden (während eine eigene Leuchte auf die Figur La Mettrie gerichtet bleibt). Zu ihnen gehören – um nur einige, sehr wenige Beispiele zu nennen – selbstverständlich die Herren Aufklärer wie Voltaire und Diderot sowie, unter anderen: der biedere Schweizer Universalgelehrte, gottgläubige Naturwissenschaftler (für La Mettrie ein Widerspruch in sich) und Boerhaave-Schüler Albrecht von Haller, mit dem sich La Mettrie eine viel beachtete, schriftlich ausgetragene Fehde um das geistige Erbe Boerhaaves liefert; die Geschichte der Hafenstadt Saint Malo, Heimatort nicht nur von La Mettrie und seinem Gönner Maupertuis, sondern auch etlicher Korsaren; der erfinderische Jesuit Athanasius Kircher mit seinem Entwurf einer „Katzenorgel“; der Automatenbauer Vaucanson und der deutsche Romantiker E.T.A. Hoffmann als Zeugen einer maschinen- bzw. automatenbegeisterten Epoche, in der viele geneigt waren, ihren Gott als Uhrmacher zu imaginieren – was La Mettries Vergleich des Menschen mit einer Maschine, die ihre Feder selbst aufzieht (die damaligen Automaten wurden per Uhrwerk angetrieben) verständlich erscheinen lässt.

Leider scheint nicht alles und jeder auf der Bühne dieses Essays am optimalen Platz oder angemessen präsentiert. So wird Ludwig der XIV. und seine sonnenkönigliche Regentschaft zwar kurz skizziert, doch zu allgemein und ohne Hinweis darauf, wie es gegen deren Ende um das herabgewirtschaftete Frankreich bestellt war, in dem La Mettrie aufwuchs. Auch Fehlbesetzungen finden statt: Etwa wird hier als Voltaires Briefpartner der längst verstorbene, berüchtigte „Kardinal Richelieu“ installiert und nicht, wie es richtig gewesen wäre, dessen Großneffe. So muss man sich trotz des Vergnügens, das die Lektüre dieses Buches und oft auch die Sprache Bernd Schuchters bereitet, doch fragen, ob es nicht zu früh veröffentlicht wurde. Ob nicht mehr Zeit, Recherche und Spracharbeit hätte investiert werden sollen, um z.B. Redundanzen zu tilgen, das eine oder andere Detail genauer zu erklären – wie die Frage, wie aus dem Namen „Arouet (Le Jeune)“ das Anagramm „Voltaire“ entstand (S. 124; Anm: im Lateinischen wird das „U“ auch als „V“ und das „J“ als „I“ geschrieben). Oder dem eher assoziativ angelegten Essay zur besseren Orientierung doch eine kurze Zeittafel zum Lebens(ver)lauf La Mettries und ein chronologisches Verzeichnis seiner Werke anzuhängen. Auch manche Metapher, wie die vom verbotenen Bestseller-Autor als „Goldesel“, den man „melken“ müsse, „solange er im Schwange ist“ (S. 133), hätte gestutzt gehört … Allerdings findet sich diese Metapher gerade an einer der gelungenen Stellen von Bernd Schuchters Essay: zur klandestinen Literatur des 18. Jahrhunderts, zu Verlegern, die es auf sich nahmen, gefährdete Bücher unter eigenem Namen zu veröffentlichen; Buchhändlern, die sich in Gefahr begaben, indem sie verfolgte Autoren außer Landes brachten …

Die stärksten Passagen sind wohl ohnehin solche, in denen es „erzählerischer“ zugeht. Eine davon ist die Schilderung eines Fiebertraums (S. 93 f.), der La Mettrie bald zum „Aha-Erlebnis“ wurde und ihm die Abhängigkeit des „Geistes“ von der Verfassung des „Körpers“ offenbarte. Fazit: „Es gilt, die Natur des menschlichen Körpers zu studieren, und nur die Natur, um den Menschen ganz zu erklären; es braucht keine Metaphysik und Spekulationen […]. Es geht, in den Worten La Mettries, um eine Harmonie des Körpers, die, wenn sie gestört ist, die Krankheit verursacht.“ (S. 98)

Was hätte La Mettrie wohl zu den vielfältigen Phänomenen des (post)modernen Lebens gesagt, geschrieben, zu Umweltzerstörung, religiösem Fanatismus, technokratisch verwalteten Spitälern, Populismus (um nur einige Zumutungen dieses Jahrhunderts schlagwortartig anzusprechen)? Mit dem Blick darauf, dass es nur dieses eine, diesseitige Leben gibt – und nur diese eine, endliche Welt, in der wir glücklich werden können? Fragen wie diese kommen einem beim Lesen dieses Essays immer wieder in den Sinn, und man eilt gern, Bernd Schuchter sei Dank, in die nächste Buchhandlung, La Mettries wegen …

Herr Maschine oder vom wunderlichen Leben und Sterben des Julien Offray de La Mettrie.
Essay.
Wien: Braumüller Verlag, 2018.
176 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99200-201-6.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 21.11.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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