#Roman

HELIX. Sie werden uns ersetzen

Marc Elsberg

// Rezension von Jürgen Weber

Kinder an die Macht, sang einst Herbert „Gröni“ Grönemeyer, und in Elsbergs „Debattenthriller“ passiert genau das, was einst als Aufruf zur Anarchie verstanden wurde und die Hierarchie umdrehen sollte. Eine geheimnisvolle Fünfzehnjährige – Jill – verschwindet und hinterlässt eine kryptische Notiz auf einer öffentlichen Toilette in der sie vor „Gene(n)“ warnt.

Bald macht sich aber nicht nur die beherzte Jessica Roberts, eine Regierungsbeamtin, auf die Suche nach Jill, sondern sämtliche Geheimdienste und Regierungsbehörden der USA, denn der US-Außenminister Jack Dunbraith wurde durch eine gemeines Biogiftattentat quasi öffentlich hingerichtet. Das Virus hinterlässt sogar einen Totenkopf auf seiner Lunge. Die Behörden sind alarmiert. Der Vorfall wird zur Chefsache und sogar die US-Präsidentin höchstpersönlich wird in die gated community namens „New Garden“, von wo Jill ausgebrochen war, eingeflogen, um mehr Licht in das Dunkel von Helix zu bringen.

Ein Beitrag zur Debatte über Gentechnik

„Irgendjemand da draußen experimentiert mit der nichtkommerziellen Verbreitung genmanipulierter Organismen. Wir müssen herausfinden, wer dahintersteckt. Und was sie vorhaben.“, meint einer der eigens eingesetzten Taskforce. Mögliche Bioterroristen tun dies wahrscheinlich gerade wirklich und der Staat muss sich dafür wappnen. Tatsächlich klingt in Marc Elsbergs Roman nur ein weiblicher US-Präsident nach Science Fiction, der Rest – die Gentechnik – ist längst Realität. Wenn auch vielleicht noch nicht an Menschen. Aber wer weiß? Polymerase Chain Reaction, Gene Drive, Genotyp versus Phänotyp, Crispr/Cas9 sind Begriffe, die Elsberg verwendet und die der Realität entstammen. Was wird denn wirklich passieren, wenn die Gentechnik solche Kinder schafft? Nicht nur der Autor selbst fühlt sich etwas an Professor X.s Hochbegabtenschule erinnert, die aus den X-Men-Comics bekannte Schule, in der Außenseiter sozialisiert werden. Marc Elsbergs „Helix“ will auf Fragen der Zeit aufmerksam machen und Diskussionen und Debatten auslösen, ein Gesellschaftsthriller, der die Realität zur eigentlichen Science Fiction macht und brennend aktuelle Fragen stellt.

„Gene“ wie „Eu“gene

„Achtet auf Gene! Er ist gemeingefährlich!“ lautete Jill’s Notiz mit der sie die Welt – und ihre Verfolger – warnen will. Jill hat es als einzige geschafft aus New Garden, dem Zuchtlabor der neuen „modernen Kinder“, auszubrechen. Durch eine Veränderung des Genstamms können diese Kinder nicht nur besser laufen, springen und Baseball spielen, sondern auch besser denken. Und natürlich sieht Jill viel älter aus als sie ist – und noch dazu gut! So studiert sie nach ihrem Ausbruch nicht nur am MIT – wo ihre Spuren gefunden werden – sondern verdient alsbald auch Millionen durch Börsenspekulationen aus dem brasilianischen Tropenwald heraus, wo dieser Roman in einem atemberaubenden Showdown auch enden wird. Genauer auf dem Flughafen von Sao Paulo, von wo aus ein noch näher zu definierendes Virus mutwillig in die Welt verstreut werden soll. Der Roman zeigt das Narrativ aus verschiedenen Perspektiven, in kurzen prägnanten Hauptsätzen und ebenso kurzen Kapiteln, „Auf-den-Bus-warte-Häppchen“ – insgesamt 134 – auf neun Tage aufgeteilt. Er erzählt so auch die Liebesgeschichte von Greg und Helen, die sich ein solches hochbegabtes Baby einpflanzen haben lassen. Eigentlich wollen sie sogar zwei: Zwillinge sollen ihren Lebensabend versüßen, denn sonst würde das eine – normale – Kind fragen, warum sie ihm die Möglichkeiten der modernen Gentechnik vorenthalten hätten und dem anderen nicht. Möglichkeiten als Chancen?

Generationenkonflikt und Jugendtraum

Marc Elsbergs Grundannahme ist, dass seine sogenannten „modernen“, gentechnisch veränderten Kinder – ihrer Zeit voraus – sich alleine fühlen und deswegen sehr schnell für ihre eigene Vermehrung sorgen würden. Das selbstgebastelte Virus – ein gentechnisch modifizierter Organismus, kurz GMO – soll in die Welt gestreut werden, um die normalen Kinder zur Minderheit zu machen. Bei aller Hochachtung für Elsbergs fast 650 Seiten starkes Werk muss diese These aber doch bezweifelt werden. Denn wer wäre nicht gerne einzigartig? Und ist nicht genau das der Motor, der auch die Wissenschaftler antreibt, ihre „modernen Kinder“ in silicio zu erzeugen? Auch wie die Behörden bereit sind alles zu vertuschen, damit es nicht an die Öffentlichkeit gelangt, wird authentisch erzählt. Das Gespräch zwischen Eugene und der Präsidentin der Vereinigten Staaten kommt „rotzfrech“ daher und wirkt wie ein verwirklichter Jugendtraum, wenn sich Eugene dann am Steuerknüppel eines Helikopters zu schaffen macht und einfach aus New Garden entflieht. Dass Eugene seinen „Eltern“ vorwirft, es sich nicht ausgesucht zu haben geboren zu werden, liest sich wiederum wie ein klassischer Generationenkonflikt, den auch Grönemeyer eingangs schon besungen hat.
„Früher hat Kindermachen irgendwie mehr Spaß gemacht“, sagt Helen in Elsbergs Roman. Eben.

Marc Elsberg Helix. Sie werden uns ersetzen
Roman.
München: blanvalet, 2016.
672 S.; brosch.
ISBN 978-3-7645-0564-6.

Rezension vom 12.12.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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