#Sachbuch

Handbuch.

// Rezension von Johann Holzner

10 Jahre Stefan Zweig Zentrum Salzburg: Aus diesem Anlass lud der Rektor der Universität Salzburg Univ.-Prof. Dr. Heinrich Schmidinger im November 2018 zu einem Fest, das Anlass bot zu einem Rückblick auf eine stattliche, mehr noch: eine schier endlose Reihe von Aktivitäten (Lesungen, Ausstellungen, Lehrveranstaltungen und Publikationen), die mittlerweile dazu geführt haben, dass dieses Institut gleichsam aus dem Stand in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zu einem weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannten Ort für Literatur, Kunst und Wissenschaft aufrücken konnte.

Unter den zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen, die Klemens Renoldner, der Direktor dieses Zentrums, inzwischen herausgegeben oder mitherausgegeben hat, nimmt das Stefan Zweig Handbuch aber in jedem Fall eine Sonderrolle ein: Mit einem Gesamtgewicht von 2 kg, auf gut 1000 Seiten, bietet dieses Handbuch nämlich nicht nur eine Zusammenschau der wichtigsten Erträge der Stefan-Zweig-Forschung, sondern weit darüber hinaus auch viel Neues; und der Eindruck, der zunächst einmal angesichts dieses voluminösen Bandes sich aufdrängt, hier bekäme man eine Monster-Hagiographie vorgesetzt, wie sie noch keinem österreichischen Schriftsteller gewidmet worden ist, dieser Eindruck täuscht am Ende dann doch. Denn hin und wieder präsentiert dieses Buch eine akkurate, kritische, grundsolide Abrechnung auch.

Eine Abrechnung mit der (älteren) wissenschaftlichen Literatur über Stefan Zweig und eine Abrechnung zugleich mit dem Autor der Welt von Gestern. Dabei versteht sich, dass Renoldners Beiträge auch in dieser Hinsicht den Takt vorgeben. Schon in seinem Aufsatz über die Biographie, der das Handbuch eröffnet (Kapitel I), beleuchtet Renoldner die Position Zweigs im Kontext von Jung-Wien völlig neu; indem er die Selbstdarstellungen des Autors mit verschiedenen Äußerungen von Zeitzeugen konfrontiert, wird bald sichtbar, dass Zweig in seinen Briefen und nachträglich auch in seinen Erinnerungen immer wieder sich eine Position zuzuschreiben versucht, die so zu seiner Zeit sonst kaum jemand gesehen hat: Zweig im Zentrum der Epoche Hugo von Hofmannsthals? Wiederholt wird seine Selbststilisierung durchkreuzt (u. a. auch von Alexandra Millner und Evelyne Polt-Heinzl).

Mehr als 60 Autoren und Autorinnen bearbeiten die weiteren zentralen Kapitel dieses Handbuchs: II. Literarische und kulturhistorische Voraussetzungen; III. Das Werk; IV. Systematische Aspekte: Literatur, Kunst, Kultur; V. Systematische Aspekte: Geschichte, Politik, Gesellschaft; VI. Rezeption; VII. Editionsgeschichte. Verzeichnisse der Primär- und Sekundärliteratur, auch der Filme, eine Zeittafel sowie ein Personen- und ein Werkregister schließen den Band ab. – Dass es angesichts dieser Gliederung zu etlichen Wiederholungen und Überschneidungen kommt, ist evident; andererseits wirken diese Verdoppelungen hin und wieder aber auch durchaus erfrischend, werden mittendrin doch nicht selten auseinanderdriftende Perspektiven vermittelt. Beispiel: Zweigs Rede Einigung Europas (aus dem Nachlass erstmals 2013 herausgegeben von Klemens Renoldner; eine Rede, die Zweig wahrscheinlich zwischen 1932 und 1934 aufgesetzt, jedoch nie vorgetragen hat). Jacques Le Rider nennt diese Rede „bestürzend harmlos“, während Gregor Thuswaldner denselben Text mit seinen „erstaunlich konkreten Vorschlägen“ für ein vereinigtes Europa (mit guten Gründen, darf man hinzufügen) keineswegs gleich zum alten Eisen wirft.

Anders als z. B. Zweigs Beziehungen zu Romain Rolland, Schnitzler oder Verhaeren, die hier wiederholt verhandelt werden, anders auch als seine Erzählungen und Biographien und Essay-Bände sind seine Gedichte und seine Dramen, die ja nie besondere Beachtung gefunden haben, längst schon vielfach vergessen. Mit Blick auf die Lyrik zählt Rüdiger Görner in überzeugender Manier die Gründe dafür auch allesamt auf. Mit Blick auf die Dramen, die aus dem Repertoire des Theaterbetriebs mehr oder weniger verschwunden sind, einmal abgesehen von der Komödie Volpone und von dem Libretto Die schweigsame Frau, halten sich die Bearbeiter/innen (Monika Meister, Birgit Peter u.a.) hingegen stärker bedeckt; dass Zweigs Stücke zu Recht selten inszeniert werden, dieses Urteil schimmert jedoch immer wieder klar durch. – Mit einer Akribie, die ihresgleichen sucht, hat vor Jahren schon Franz Zeder im Anschluss an die Edition des Briefwechsels zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2016) über Zweigs Verhältnis zu Richard Strauss, im besonderen nach dessen Ernennung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer, und auch über die Turbulenzen rund um die erste Aufführung der Schweigsamen Frau 1935 in Dresden unterrichtet. In den einschlägigen Handbuch-Passagen wird Zeders Studie (die an anderen Stellen immerhin doch auch schon aufscheint) noch nicht zitiert; aber der Beitrag von Arturo Larcati zu diesem Thema liefert ebenfalls eine höchst-solide Darstellung der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der Oper (deren Uraufführung bekanntlich Karl Böhm dirigiert hat).

Auffallend viele Beiträge verweisen nicht nur auf Vorarbeiten, sondern auch auf weitere Aufgaben der Forschung, so als stünde diese immer noch eher am Anfang; noch ist ja tatsächlich nicht jeder denkbare Kontext ausgelotet, nicht jeder mögliche Vergleich gezogen. Fraglich ist allerdings, wohin und zu welchem Ende derartige Ausschweifungen noch führen sollten. – Wohin sie führen können, das zeigen beispielhaft und methodisch richtungweisend Aufsätze von Thomas Anz und Ulrich Weinzierl. Anz beschäftigt sich mit den Beziehungskonstellationen zwischen Literatur und Psychoanalyse, konkret mit dem Verhältnis zwischen Zweig und Freud. Weinzierl analysiert Die Welt von Gestern – nicht ohne auch davor zu warnen, die Schilderungen Zweigs stets für bare Münze zu nehmen; und er kommt doch zum Schluss, dass dieses Buch wie kein anderes die Blüte der Kunst und Wissenschaft in Wien um 1900 aufzeigt und darüber hinaus mehr noch, nämlich „das literarische Gründungsdokument der Idee Europa in deutscher Sprache“ darstellt.

Aus der Sicht der Autobiographie-Forschung befasst sich Helmut Galle noch einmal mit der Welt von Gestern, vor allem mit dem Gebrauch des erzählenden Ich und des erlebenden Wir. Indem er dabei aufweist, dass es zwischen Zweigs Subjektkonzeption und jener der Moderne keine Brücke gibt, erklärt er schlüssig, warum die Literaturwissenschaft sich so lange gegenüber diesem Bestseller-Autor doch sehr reserviert verhalten hat. Übrigens nicht anders als viele Kolleginnen und Kollegen Zweigs; in der langen Reihe von durchaus lesenswerten Aufsätzen über sein Werk tauchen immer wieder Schriftsteller auf, die (vor allem hinter seinem Rücken) sich bitter-abfällig über Zweig geäußert haben: zum einen zu seiner politischen Haltung, zum andern zu seiner Bildsprache, zu seinen Stilblüten, zu seinen Erzählperspektiven (in diesem Zusammenhang wären u.v.a. Heinrich und Thomas Mann, Karl Kraus, Hermann Broch, Robert Musil, auch Arthur Schnitzler und Joseph Roth zu nennen).

Aber dem gegenüber steht das berührende Zeugnis, das Ilse Aichinger (gleich nach dem Krieg) den Biographien Zweigs ausgestellt hat, ein Schreiben an den vor Jahren schon Verstorbenen, unter allen Rezeptionsdokumenten ganz bestimmt die schönste Würdigung:
Dann lasen wir ‚Maria Stuart‘. Wir lasen es im Schatten der Gestapo, die schwer und drohend den Kai beherrschte. Wir lasen ‚Joseph Fouché‘. Und wir lasen ‚Marie Antoinette‘! Unsere Beine baumelten über die steinerne Kaimauer in das schmutziggrüne Wasser, unsere Augen bohrten sich in die Zeilen und sahen nur flüchtig auf, um eine schwimmende Orangenschale zu verfolgen, die ungefähr ausdrückte, was wir suchten, Ferne, Wärme und Wunder; unsere Herzen aber zogen mit Ihnen Jahrhunderte zurück und fanden im Schoß der Zeiten das Unvergängliche: Haltung.

Das Unvergängliche: das meint auch die Überlegenheit der Besiegten über die Sieger, dieses Motiv steht häufig im Mittelpunkt der durchaus gründlichen und umsichtigen Analysen, die in diesem Handbuch den Erzählungen, Romanen und Biographien Zweigs gewidmet werden. Besonders hervorgehoben seien hier die Beiträge zur Schachnovelle (Klemens Renoldner / Norbert Christian Wolf), zu den Sternstunden der Menschheit im Grenzbereich von Historiographie und Literatur (Werner Michler) und zum Brasilien-Buch, das, so Jeroen Dewulf, bei allem, was sich immer auch dagegen sagen ließe, eine angemessene Einschätzung nur unter jenem Aspekt herausfordert, den der Untertitel genau vorgibt: Ein Land der Zukunft.

Die Beiträge im einzelnen zu würdigen verbietet sich im Rahmen einer Rezension. Aber es sei ausdrücklich erwähnt, dass in diesem Handbuch vieles klargestellt bzw. endlich auch bedachtsam in Schwebe gehalten wird, was dergleichen längst verdient: Zweigs ambivalentes Verhältnis zur Arbeiterschaft und zur Sozialdemokratie zum Beispiel, auch seine widerspruchsvollen Einstellungen zu zeitgenössischen Repräsentanten der bildenden Kunst, zu Moden seiner Zeit und generell zur Kanon-Problematik, insbesondere in den Bereichen der Musik und Literatur. Es ist ferner zu unterstreichen, dass vielfach ganz frische Spuren in die hier umrissene Literaturlandschaft eingetragen werden, so dass da und dort auch auf etliche Zeitgenossen Zweigs ein neues Licht fällt. Und es ist schließlich nicht zu übersehen, dass trotz vieler Vorarbeiten, die gerade auch vom Stefan Zweig Zentrum Salzburg schon geleistet worden sind, noch vieles zu entdecken ist und hier schon gesichtet wird: z. B. in Aufsätzen zu Texten aus dem Nachlass (Martina Wörgötter), zu Stefan Zweigs Verweisen auf die Bibel (Armin Eidherr) oder zu seiner ‚Arbeit am Mythos‘ (Herwig Gottwald). – Aufschlussreiche Archiv-Materialien, die bisher kaum einmal eingesehen oder jedenfalls noch nicht publiziert worden sind (aus der Stefan Zweig Collection der State University of New York at Fredonia sowie aus Marbach, Salzburg und Jerusalem), sind hier wie selbstverständlich mit einbezogen worden; kurz: Herausgeberteam, Lektorat und Redaktion verdienen unbedingt ein riesengroßes Pauschallob.

Noch ein Nachtrag: Klemens Renoldner, Mister Stefan Zweig (© Salzburger Nachrichten), geht Ende 2018 in Pension; ab 1. Jänner 2019 übernimmt Arturo Larcati sein Szepter. Das Stefan Zweig Zentrum war und bleibt in den besten Händen.

Johann Holzner
05. Dezember 2018

Hrsg. von Arturo Larcati, Klemens Renoldner, Martina Wörgötter.
Berlin/Boston: De Gruyter 2018.
1004 Seiten, EUR 199,95.
ISBN 978-3-11-030388-9.

Rezension vom 05.12.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.