#Interview

H.C. Artmann

Lars Brandt

// Rezension von Walter Wagner

Wem als Vertreter der schreibenden Zunft die Ehre zuteil wird, vor laufendem Mikrofon aus der Schule zu plaudern, um den Rohstoff für ein Buch zu liefern, darf sich fürwahr als arriviert betrachten. Angesichts der Fülle von sogenannten Gesprächen, die in gedruckter Form vorliegen, scheint es nicht abwegig, von einem eigenen Genre zu sprechen. Was der alte Goethe vorgeblich mit Eckermann besprach, ist längst in den Kanon der deutschsprachigen Literatur eingegangen.

Lars Brandt legt uns in durchaus zeitgemäßer Form seine transkribierten Interviews samt Fotos des greisen H.C. und einer zum Band gehörigen CD vor, auf der die Stimme des Dichters zu vernehmen ist. Die Aufzeichnung, so versichert uns der Herausgeber, sei nicht überarbeitet worden. Sie verspricht Authentizität, und der Leser mag geneigt sein, diesem Anspruch zu glauben. Jedenfalls erlebt er lesend, wie der Befragte vor dem Mikrofon seine Gedanken entwickelt, den Jüngeren immer wieder nach einem Namen fragt, der ihm entfallen ist, gleichsam um die bisweilen ins Stocken geratene Wortmühle wieder in Gang zu bringen.

Wer H.C. live erlebt hat, ahnt, dass der eloquente Schwadronierer, die notorische Stimmungskanone von einst müde geworden ist. Freilich, noch blitzen gelegentlich Kalauer auf, werden Register und Sprachen nach Belieben gezogen. Aber hier wird ein Abgesang angestimmt, in dem ein Untergehender Bilanz zieht. Er verfolgt seine Spur zurück ins Weinviertel, wo er als Kind die Sommermonate bei den Großeltern verbrachte. In der Einöde, wo sich die mährische Grenze ins Österreichische schiebt, schloss er Freundschaft mit Feen und Elfen, lernte er den heidnischen Volksglauben der Großmutter kennen, die, um zu beten, in den Wald ging. Diese ersten Plätze der Erinnerung werden zum geheimen Quell der Inspiration, aus dessen Reichtum ein Werk entstanden ist, das sich so vielfältig und poetisch ausnimmt wie Artmanns Leben.

Bruchstücke aus dieser pikaresken Existenz legt der Befragte nach und nach frei. Von seiner abenteuerlichen Desertion von der Wehrmacht berichtet er. Wie er an der Schweizer Grenze aufgegriffen und in eine russische Strafkompanie versetzt, und, zurück aus dem Osten, nach Frankreich eingezogen wurde. Dort begann abermals eine waghalsige Flucht, auf der er mehrmals Namen und Uniform wechselte.

H.C., eine Reinkarnation von François Villon, wie Insider vermuten, überlebt den Krieg, beginnt Gedichte zu schreiben und lernt Sprachen. – Ihrer Musik wegen, die auf den Lyriker eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt. Was der Denker in schlüssigen Systemen beschreibt, erfühlt Artmann, der sich gegen das Etikett des Intellektuellen verwehrt: „Theoretisches ist bei mir wenig da. […] Das ist mir zu hoch, zu intellektuell.“

Als Triebfeder des Lyrischen gibt H.C. seine Sucht nach Abenteuern und Unerwartetem an. Daraus erklärt sich seine Vorliebe für Kurzformen: „Nein, also mir ist jeder Futurismus fremd. Ich denke nur für heute.“ Das klingt romantisch aus dem Mund des durstigen Frauenhelden, und wir haben Anlass zu zweifeln. Chronische Launigkeit als Rezept gegen den Tod? Artmann dementiert diese Deutung nicht: „Ja. Es graust mir davor“, gesteht er, um alsbald das Sujet zu wechseln.

Immer wieder richtet er dabei den Blick zurück in die Vergangenheit. Oberst Redl habe noch Ehrgefühl gehabt, das fehle ihm bei den heutigen Politikern. Überhaupt sei die innenpolitische Lage seit der schwarz-blauen Koalition vertrackt. Ihm als europäischem Patrioten falle es schwer, den xenophoben Kurs der Regierung zu akzeptieren, Einmischung von außen verbiete er sich aber ebenso.

Begeisterung für die modernen Zeitläufte atmet Artmanns Diskurs keinesfalls. Es bleibt nichts, was dem strengen Urteil des Rückwärtsgewandten standhielte. Melancholisch ruft er sich den Twist in Berlin in Erinnerung und verweilt etwas länger bei den Wiener Besäufnissen.

Wenn Leidenschaften unter dem Druck der Vergänglichkeit schwinden, bleibt das Wesentliche zurück. Lars Brandt bringt dies auf die luzide Formel: „Worum geht’s beim Schreiben? – Um die Buchstaben. Worum geht’s im Leben? – Um die Buchstaben.“
Fern von kabarettistischem Zauber enthüllt der Dichter das Motiv seines Schaffens. Es ist ein unbedingtes Bekenntnis zur Kunst, aus dem unüberhörbar die Angst des sensiblen Künstlers hervorbricht: „Das Nichtverstandenwerden, das ist das Schlimmste.“ Lars Brandt hat diese Schwierigkeit in einem Gespräch gemeistert. Es ist die Partitur eines Requiems.

Lars Brandt H.C. Artmann
Ein Gespräch.
Salzburg, Wien, Frankfurt: Residenz, 2001.
176 S.; brosch.
ISBN 3-7017-1265-4.

Rezension vom 30.10.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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