#Prosa

Gut und Böse sind Vorurteile der Götter

Helmut Eisendle

// Rezension von Walter Wagner

„Wie so oft saßen sie bei einem Kaffee in der Mensa der Universität und redeten, redeten, plauderten, stritten um nichts und alles, verloren sich in Gedanken […].“ Gemeint sind Félix Vicq d’Azur und Edwin Tyson, zwei Ärzte aus dem 17. und 18. Jahrhundert, deren Namen Helmut Eisendle aus dem Staub der Enzyklopädie wiedererweckt, um sie an der Grazer Karl-Franzens-Universität in einen endlosen Disput über philosophische, soziologische, politische und psychologische Gegenstände zu verstricken.

Der Franzose ist um die 60 und irritiert den um 20 Jahre Jüngeren mit seinen radikalen Ansichten, die aus ungewohnten Perspektiven Einblick in das Geschäft des Denkens bieten. Dabei geht es vordergründig um Erkenntnis. Ist nun das Volk tatsächlich der Souverän oder gar der Staat, wie mancher insgeheim vermutet? Wie instrumentalisieren Staatsmänner Sprache? Ja, wie viel Wahrheit, um den unseligen Begriff zu verwenden, sickert tatsächlich durch die Medientrichter an die Öffentlichkeit? „In der Demokratie wird immer Stille-Post gespielt“, so Vicq d’Azurs beißende Conclusio.

Platon wird ebenso wie Kant oder Marx zu Hilfe gerufen, wenn einer der Diskutanten seinen Standpunkt zu untermauern sucht. So wimmelt dieser gelehrte Dialog, der sich in die gerade in der Antike gepflegte Tradition des philosophischen Gesprächs einschreibt, von Querverweisen und Zitaten. Intertextuelle Belege binden Geistesblitze und Wortfunken in eine Endlosschleife der intellektuellen Reflexion ein, die sich mit keinem Ergebnis zufrieden gibt, weil alles anzuzweifeln ist. Am Ende branden die Wellen der Logorrhöe an die entlegenen Gestade der Denker, die den Zweck ihres Zusammenseins im ununterbrochenen Fluss von Rede und Gegenrede zementieren: „Was ist wichtig? Wichtig ist unser Gespräch, wichtig ist, daß wir sprechen, nicht?“ Sprache, Sprachkunst, die Lust am diskursiven Ausdruck, die Erotik des Bonmots und die Freude an der Varatio, die dem Begriff keine Ruhe lässt, bis er, semantisch von allen Seiten umlagert, in der Redundanz die Waffen streckt.

Wahrlich, in diesem Werk wird uns Denkarbeit vorexerziert, wie sie Schöngeister und Philosophen virtuos beherrschen, um, wie auch Vicq d’Azur konzediert, der Langeweile Einhalt zu gebieten. So referieren Eisendles Figuren auf eine Wirklichkeit, die sich längst von ihnen abgewandt hat: „Ach, unsere Gespräche finden außerhalb der Welt statt.“

Damit bringen die scharfsinnigen Beobachter das Elend jeglicher Heuristik auf den Punkt. Um den vielfältigen Wahrnehmungen eine Parzelle Wahrheit abzuringen, muss ein Freiraum für Kontemplation und Muße geschaffen werden, innerhalb dessen sich der Künstler und Intellektuelle notwendigerweise der auf Konsum und Produktion gründenden Sozietät entziehen muss. In der konsequenten Einübung des Denkens entfremdet sich dem Subjekt die Umgebung. Bis zur Marginalität beargwöhnt, wird es unter die Wahnsinnigen und Unangepassten rubriziert, die an der Peripherie der ferngesteuerten Masse ihr Dasein fristen. Der denkende Mensch, erklärt Vicq d’Azur selbstkritisch, begreift, ohne einzugreifen. Eindringlich beschreibt er ein Massaker, das vage Assoziationen mit einer Episode aus dem Zweiten Weltkrieg weckt, im Grunde jedoch als Parabel für Gräuel entfesselter Gewalt steht. Gebärdet sich so die Antithese der Reflexion?

Dann lieber „Cogitomanie“ ist der Leser zu denken geneigt. Dann lieber Freuds mangelnde Kenntnis der ägyptischen Mythologie monieren und den Kastrationskomplex auf einen sogenannten Osiriskomplex zurückführen. „Sie sind nicht normal. Und Sie? Auch nicht?“ Also bricht der Verfasser für die Abnormität eine Lanze. In der Normalität wird das Individuum zur stumpfsinnigen Arbeitsmaschine degradiert und büßt vor dem flimmernden Bildschirm die urmenschlichste Fähigkeit des kreativen Denkens ein.

Man muss sich wie die beiden Müßiggänger selbst bei der Kopfarbeit zusehen, um diese Mischung aus Kalauer und Sentenz hervorzubringen, wo sich Oberfläche und Tiefe aufs Glücklichste vermählen: „Unter Verstand meint man die Fähigkeit des menschlichen Geistes. Und unter Verständnis? Die Fähigkeit zur Menschlichkeit, vielleicht.“

Zwei „Geistesnarren“, wie sie aus Thomas Bernhards Feder stammen könnten – nur ernsthafter, weniger echauffiert, zurückhaltender im Gebrauch der Invektive – geben sich als „Gedankenkünstler“ zu erkennen und präsentieren dem Publikum eine Probe ihres Könnens. Koketterie und Egozentrik, Narzissmus und Hochmut paaren sich in dem von anarchischer Denkwut angefeuerten Félix Vicq d’Azur, dem Eisendle einen im Habitus bisweilen etwas konventionellen Edwin Tyson zur Seite stellt, wobei sich das Duo unter der Anleitung des Älteren einen Jux daraus macht, die Welt geistig auf den Kopf zu stellen, und neben Profundem genialisch Absurdes hervorzubringen vermag: „Wir haben zwar das Wort, können aber den Mund nicht halten.“

Wer ein Faible für derartige Nachdenklichkeit besitzt, wird Gut und Böse sind Vorurteile der Götter schätzen und loben. Vergeblich wird er innerhalb der breiten Palette an angetippten Themen indessen zwei gewichtige suchen: Liebe und Tod. Als ob nicht alles Reden auf diese zurückzuführen wäre. Das Ausbleiben der einen, die Ankunft des andern.
„Was heißt Ende? Ende wovon?“ Wir haben zwar das Wort…

Helmut Eisendle Gut und Böse sind Vorurteile der Götter
Ein Gespräch.
Salzburg, Wien, Frankfurt: Residenz, 2002.
139 S.; geb.
ISBN 3-7017-1251-4.

Rezension vom 13.03.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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