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#Prosa
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Gui Gui oder Die
Machbarkeit der Welt

Hubert Weinheimer

// Rezension von Antonia Rahofer

Zur Erinnerung: Das Herz sitzt links, also von dir aus gesehen rechts. Also hier. So lang ich wehrfähig bin, werde ich das Feuer erwidern. Es genügt also nicht, mich bloß zu verletzen um dann zu flüchten.“ (41) Der Grat zwischen Schuld und Unschuld ist ein schmaler. Der zwischen Anrichten und (Wieder-Gerade-)Richten ebenso. Diese und anverwandte existentielle Abgrundszenarien lotet Hubert Weinheimer in seinem Prosa-Debüt Gui Gui oder Die Machbarkeit der Welt aus. Erschienen in der erst 2013 gegründeten Edition Redelsteiner Dahimène stellt der Roman die zentrale Frage: Ist eine Rekonstruktion von Ereignissen, Motiven und Vergangenheit ganz allgemein möglich – und wenn ja, wie sind diese zu bewerten? Wie verlässlich und tragfähig kann deren Deutung überhaupt sein? Und mit welchen (Erzähl-)Mitteln wäre diese zu erlangen? Wer steigt zuletzt als Gewinner einer Geschichte aus, wer als Verlierer?

Schlagabtausch zwischen Streitgespräch, Verhör und Geständnis

Ein Duell zwischen einem Schauspieler mit Promifaktor und Hang zur Selbstverliebtheit und seinem jüngeren, stets etwas randständigen Bruder ist der Angelpunkt der Erzählung: Der ewig Zweite und Zeit seines Lebens im Schatten des erfolgreichen Bruders stehende Christian endet schwerverletzt im Koma. Sein großer Bruder flüchtet nach dem gerichtlichen Freispruch zur Realitätsbewältigung auf den abgelegenen Strand Gui Gui auf Gran Canaria, von wo seine Ich-Erzählung ihren Ausgang nimmt: „Gui Gui ist ein altes Guanchenwort, habe ich mir sagen lassen. (…) Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, aber es bezeichnet diesen Ort.“ So einfach ist das mit der Zeichensetzung: Die Welt ist eben, was sie ist. Nicht mehr, nicht weniger. Das versucht Weinheimer programmatisch – und nicht auf intertextuelle Verweise auf Gertrud Steins ‚a rose is a rose’ beschränkt – zu vermitteln. Klar gezeichnete Bilder und der innere Monolog des Schauspieler-Ichs am Strand führen die LeserInnen zu Erinnerungs-Versatzstücken über Tathergang und die gemeinsame Jugend: Szenen des Duellhergangs wechseln mit Reminiszenzen eines Post-Hippie-Freecamper-Strandlebens – was die Textkomposition betrifft, mitunter einem filmischen Sequenzwechsel gleich. Das Abarbeiten an den traumatischen Ereignissen und am Albdruck des schlechten Gewissens findet im Dialog mit mehr oder weniger realen Anderen, aber auch im schonungslosen Selbstgespräch zu seiner literarischen Form: sei es als formal abgehobener, dramatischer Dialog oder als direkte Reden, die sich nicht zuletzt ohne weitere formale Abhebung mühelos in den Erzähl- und Lesefluss einordnen. Die Stimme des im Koma liegenden Bruders nistet sich zunehmend ein in den verzweifelten Gedankenstrudel des Protagonisten: „Man kann einer Stimme im eigenen Kopf nicht antworten. Weil die Stimme längst weiß, was man sagen will. Man ist ihr unterworfen. Ich weiß, dass ich mir das alles einbilde. Ich weiß, dass er tot ist, mausetot oder wenigstens im Koma liegt und dass er nicht in meinem Kopf sitzt und doch: Er sitzt in meinem Kopf – auf einem Schaukelstuhl und zwinkert mir zu. Weil er seinen Abgang sehr eindrucksvoll inszeniert hat, nicht wahr?“ (66) Wahrlich eindrucksvoll inszeniert hat auch Weinheimer: Im Terrain der Prosa hat er mit diesem Debüt sprachliche Beweglichkeit ebenso wie erkenntnistheoretischen Tiefgang souverän unter Beweis gestellt. Aber auch im Bereich dramatischen Schreibens, das beweisen die Dialogelemente in Gui Gui immer wieder, scheint ein beträchtliches Potential des bisher als geistreicher und gewitzter Songtexter in Erscheinung getretenen Autors zu liegen.

Wer ist das Wort und wer ist das Echo?“

In acht namenlosen Kapiteln auf 139 Seiten wird der Topos der Strandnatur als Folie zur Elaboration eines sich mit den eigenen Glaubenssätzen in Widerspruch befindlichen Innenlebens eingesetzt: Die metaphorisch aufgeladene Strandwelt wird dabei nicht selten personifiziert: „Ich finde es nicht gut, dass das Meer schneller pulsiert als das Land. Ich mache mir Sorgen, Wasser und Erde könnten sich auseinanderleben.“ (34) Oder: „Ein Gewässer wird nicht nachhaltig traumatisiert. Es reicht völlig, wenn kein Dreck mehr nachkommt.“ (72) Was als Rückblende über das Duell und dessen Umstände beginnt, driftet im Laufe der Erzählung immer mehr ins Surreale ab, nämlich just in dem Moment, als die Angst Überhand nimmt und so mitunter Doppelgänger in Tiergestalt auf den Plan ruft, die den Protagonisten um Argumentation, Rechtfertigung und seinen puren Verstand ringen lassen. In der Gestalt von imaginären Antagonisten wie König, Libellen oder Schwan wird der innerliche Konflikt des Protagonisten vom Autor ziel- und stilsicher externalisiert.

Die Lektüre birgt zudem auch die Gelegenheit zum Schmunzeln über österreichische und umgangssprachliche Varianten wie „Schießbudenfigur“, „windige Dampfplauderer“, die allerhand „zusammen schustern“ oder gar „verhunzen“. „Sapperlot“, da kann mancher eins beim Lesen schon mal „unwucht“ werden?!

Tagträume, Delirium, Sonnenstich und Wassermangel

Weinheimer spart bei allem hiebsicher eingesetzten Sprachwitz auch nicht an metareflexiven Pointen, denn postmodern und stilsicher weiß er schließlich nur zu gut, was er tut: „Man kann schließlich alles als ein Gleichnis lesen, wenn man will und so ein waidwunder Hirsch, wie ich es bin, fantasiert ja die abenteuerlichsten Dinge zusammen.“ (92) Weinheimer nimmt wie nebenbei auch kapitalistische Lebens- und Arbeitskonzepte aufs Korn. Etwa, als von der einzigen weiblichen Figur (neben der Mutter, wohlgemerkt), nämlich seiner Ex-Freundin Margarita, an den Schauspieler Vorwürfe herangetragen werden wie: „du bist eben nicht hart genug.“ Worauf er – zumindest in Gedanken – antwortet: „Stimmt. Ich bin nicht hart genug, ich bin flexibel. Deshalb kann man mich auch nicht und niemals brechen. Das wäre schlagfertig gewesen, aber das ist mir damals nicht eingefallen.“ (36) An Selbstironie und -reflexion wird also ebenso wenig gespart wie an zynischen Rundumschlägen à la: „Keine Erwartungen – keine Enttäuschungen. Lupenreine Katholiken.“ (39)

Am Ende bleibt die vernichtende Erkenntnis der Kontingenz und das gibt dem Text die Kraft, seine Blüten als Teil eines sprachlich vollzogenen Kontemplationsprozesses zu entfalten: „Je länger ich über diesen unbeabsichtigt beabsichtigten Freitod nachdenke, desto bemerkenswerter, ja unverständlicher wird die gesamte Angelegenheit. Gerade weil ich anfange es zu verstehen, macht es keinen Sinn.“ (49) Demgegenüber steht jedoch auch folgende, gänzlich anders gewichtete Behauptung, die Weinheimer wohlgemerkt dem Bruder-Opfer in den Mund legt: „Unsere gemeinsame Geschichte ist auch ein Sinnbild der Gesellschaft, die den Schwachen heute nicht mehr ganz offensichtlich verhungern lässt, sondern ihn dazu bringt, sich selbst zu beseitigen.“ (112) Wessen und welche Erklärung hat das letzte Wort? Weinheimer nimmt sich dieses Falles dem Wortsinn nach an, so wie er ist, legt einen bestechenden Text vor, der sitzt wie ein Strick um den Hals und lässt dabei seinen virtuosen Schauspieler – quasi verdienterweise – den guten Ton zum bösen Spiel mimen, wenn er schulterzuckend fragt: „Lebt es sich nicht furchtbar steril, so ganz ohne Fragezeichen?“ (103)

Gui Gui oder Die Machbarkeit der Welt.
Roman.
Wien:
Redelsteiner Dahimène Edition, 2014.
139 Seiten, broschiert.

ISBN 978-3-9503359-9-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 10.02.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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