#Roman

Grünholz

Emil Kaschka

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

Die Starken bleiben im Nest.
Die Schwachen fallen heraus

Grünholz, ein Internat mit gutem Ruf, befindet sich in Waldnähe zwanzig Gehminuten von der nächsten Ortschaft Buchen entfernt. Mittags und Abends können sich die Schülerinnen und Schüler frei bewegen, dürfen aber nicht weiter als einen Kilometer vom Haus weg. Handys sind nur in den Zimmern erlaubt. Oskar und Jonas, die sich eines davon teilen, sind neu und zählen daher zu den „Spatzen“. So nennt man die Jüngsten der drei Jahrgänge, die sich auf je zwei Klassen mit etwa zwanzig Jugendlichen verteilen.

„Spatzen“ sind in der Hierarchie ganz unten und werden zu Schulbeginn bei der sogenannten „Spatzenjagd“ ziemlich sekkiert. Da stürmen die Älteren in die Zimmer und duschen sie mit kaltem Wasser ab.
Doch: „Wer petzt, ist tot“, heißt es. Das bekommt der dünne Benni zu spüren, der eines Abends in Unterhose und mit Klebeband an einen Sessel gefesselt am Gang sitzt, das Wort PETZE auf der Stirn.
Solchen Erniedrigungen und Hänseleien sind die Neuen immer wieder ausgesetzt. Und wer dann noch als Außenseiter wahrgenommen wird, über den macht man sich erst recht lustig. Andreas ist so einer. Eigentlich der netteste Mensch, weil er jeden die Hausübung abschreiben lässt, ist er davon überzeugt, dass es ihn nur erwischt, weil er dick ist. Einmal wird ein lebendiges Schwein in sein Zimmer verfrachtet, ein andermal sperrt man ihn während der Besichtigung des nahen Bauernhofs in einem Schweinekäfig ein.

Nicht viel anders ergeht es dem kleinen Oskar. Als er, Sohn einer Brasilianerin und eines Österreichers, eine Goldkette um den Hals trägt, nennen ihn alle nur noch „Schwuchtel“. Erschwerend kommt hinzu, dass er durch eine Form des entzündlichen Haarausfalls, Alopecia Areala genannt, ohnehin gehandicapt ist. Sein kurz geschorenes Haar verbirgt er unter einer Mütze.
Als er während eines heimlich in der Nacht unternommenen Rodelausflugs versucht, seinen Schulkollegen Fricke zu küssen und sich dabei eine blutige Nase holt, gerät er in Panik. Denn käme heraus, dass er wirklich schwul ist, würden ihm Klassensprecher Joni, der sich von den Demütigungen anderer zu ernähren scheint, mit seinen Freunden oder die einem Haufen von Psychopathen ähnelnden Drittklässler das Leben ziemlich schwer machen.

Oberflächlich betrachtet schaut es so aus, als hätten die ständigen Beleidigungen Oskars Gefühle abstumpfen lassen, innerlich rumort es dennoch gehörig. Oft liegt er nachts wach und weint leise in sein Kopfkissen. Denn Rückhalt oder Trost findet er weder bei seinen Eltern, die sich nur anschreien oder anschweigen, noch bei seinem Zimmerkollegen Jonas. Der aber merkt immerhin, dass er sich „mehr mit Oskar zusammentun“ müsste. Doch Jonas, der aufgrund seiner unbändigen Locken „Wuschel“ genannt wird, ist sein Leben lang auch nur „ein Waschlappen“ gewesen, hat er doch weder jemals eine Rauferei gehabt noch einmal die Schule geschwänzt.
So dauert es, bis er seine Schüchternheit ablegt. Dabei ist ihm Lotte behilflich, die ihn nicht nur spüren lässt, dass sie ihn mag, sondern ihn auch in seinem Gefühl bestärkt, dadurch erwachsener zu werden als durch „alle anderen Erfahrungen und Weisheiten zusammen“.
Der Schub an Selbstvertrauen macht ihn aktiver. So bringt er den völlig betrunkenen Oskar nach einer kleinen Fete gemeinsam mit Lotte ins Bett oder hilft ihm nach einer Rangelei mit Joni dabei, Feuerwerksraketen gegen dessen Zimmertür zu ballern.
Und doch ist Jonas nicht wirklich eine Stütze, steht er doch, sobald Oskar angepöbelt wird, wie alle anderen auch nur stumm daneben und schaut zu.

Die Lage spitzt sich daher immer mehr zu. Denn Oskar will unbedingt allen zeigen, dass er „keine Schwuchtel“ ist. Er küsst deshalb auf der „Spatzenabschluss“-Party Mirjam, das unscheinbare Mädchen mit der unreinen Haut, das ein bisschen aussieht wie ein Mann. Die Szene ist komisch und grotesk. Denn wie die beiden versuchen, die Arme umeinander zu legen und ihre Münder aufeinander zu setzen, lässt vermuten, dass beide etwas tun, was sie nicht können. Alle glotzen. Aber nur Jonas spürt den Sturm, kann ihn jedoch nicht verhindern, weil er nicht selbstlos genug ist. Denn auch er will, ehe es für ihn in langweilige Sommerferien geht, noch etwas Schönes erleben. So stellt er sich neben den anderen stehend vor, wie irgendein Mädchen zu ihm kommt, um ihm zu beichten, wie lange sie schon in ihn verliebt sei.

Liebe und Freundschaft sind große Themen in dieser empathischen, vom Verlag als Jugendroman ausgewiesenen Coming-of-Age-Geschichte, die Jonas, der sich schon früh dazu bekennt, Schriftsteller werden zu wollen, in 45 kurzen Kapiteln erzählt.
Die Handlung konzentriert sich vor allem darauf, wie junge Burschen, die im Labor des Erwachsenwerdens auf Ausprobieren programmiert sind, in einem Internat auf dem Land miteinander umgehen: Sie reiben sich aneinander, schikanieren und verletzen einander, wollen cool sein. Immer geht es darum: Was trau ich mich?
In diesem Spannungsfeld der Gefühle werden erste Erfahrungen mit Alkohol und in Bezug auf die sexuelle Orientierung gemacht. Dabei fragt sich der Ich-Erzähler schon auch mal, wie schwer oder leicht das Küssen ist und übt es mit dem Spiegelbild. Außerdem kommt er beim Biertrinken zur Erkenntnis, dass Bier eine große Lüge ist, die man nur wegen der Wärme und dem Schwindel trinkt, die aber „beschissen schmeckt“.
In diesem Sinne geriert sich der locker erzählte Text als Erfahrungsbericht, der Stimmungen und Sympathien, Positionskämpfe und Konflikte unter Jugendlichen authentisch widerspiegelt. Die Schilderungen gehen teilweise unter die Haut, hat man doch mitunter den Eindruck, der Ich-Erzähler stünde mit einer Filmkamera vor dem Ort des Geschehens, das dynamisch auf einen Höhepunkt zusteuert: „die Nacht, in der alles passieren könnte“.

Und wie man weiß, ist es nie günstig, ausgiebig in Melancholie zu baden, wo doch eines ganz gewiss ist: „Die Starken bleiben im Nest. Die Schwachen fallen heraus“.

Emil Kaschka Grünholz
Roman.
Graz: edition keiper, 2021.
184 S.; brosch.
ISBN 978-3-903322-42-4.

Rezension vom 06.12.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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