Dazu braucht es bei Wimmer keinen aggressiven oder destruktiven Ton, seine Gedichte sind vielmehr Suchprozesse aus dem Erkenntniswillen, wie Sprache, Denken und Begrifflichkeit funktionieren, verbunden sind und ineinandergreifen. Sie kommen aus ohne Drastik, Derbheit und Ausloten von Geschmacksgrenzen, verzichten auf Hermetik oder Auratik, anerkennen eigene Begrenztheit ohne Grimm. Wimmer nimmt eigene oder fremde Schwäche hin ohne Urteil und Rebellion, ist ruhig selbst vor dem Verlust: der 2010 erschienene Band ganze teile war vom Tod der Dichterin Elfriede Gerstl gezeichnet, widmete sich gemeinsamen Momenten, Gesprächen, Szenerien, überrascht in seiner Trauer immer wieder mit einem in der Dichtung sonst kaum darstellbaren Motiv: der Dankbarkeit. Reminiszenzen daran finden sich auch im nun vorliegenden Band, erscheinen hier als elfriede-gerstl-memorette oder unter dem Titel stimmungsaufhellung, berichten von „geteilter freude“, und selbst das Gedicht offene trauer spricht nur vom Geschenk: „du schenkst mir täglich/etwas neues/von dem wir beide/nichts wussten/nichts wissen konnten/in der überraschung/bleibst du lebendig/hältst du mich/offen“ (S.72).
Die 99 Gedichte des grüner anker bilden ein Pendent zu den 101 Gedichten der vorangegangenen ganzen teile, schließen an das dortige 99. Gedicht an, das gelautet hatte: „halb bin ich/und dennoch ganz/ganz halb.“ Die Gedichte addieren sich, leicht verschoben über die Symmetrie, führen unter programmatischen Motti, Zitaten Gerstls, nicht nur die gemeinsame poetischen Arbeit weiter, sie enthalten auch thematische Rück- und Querverweise, beziehen sie doch den Moment des Widerstands und einer schlichten zivilen Courage mit ein: Im langen titelgebenden Gedicht wird die Geschichte eines Restaurants und seines Besitzers erzählt, der jüdische Mitbürger auch bewirtete, als der Terror des Nazi-Systems um sich griff. Das Titelgedicht im grünen anker wurde „in memoriam ing. johann glück“ verfasst, jenem feinen, weißhaarigen Herrn und seiner ebenso aufmerksamen, zierlichen Frau, die in ihrer Nobilität dieses „vornehm-ruhige haus“ führten, hier kehrte man in den Achtzigerjahren nach Lesungen und Vernissagen ein, als die Grünangergasse noch belebt war von Verlagsvertretungen, Buchhandlungen und Galerien.
Dieses Gedicht ist eine Würdigung und ein kleines poetisches Monument für eine historische Figur und ihr Umfeld, insofern Zweck- und Gebrauchstext, verfolgt eine eigene Tendenz. Sonst spielen die Gedichte mit Mehrdeutigkeiten, demontieren und montieren Sprachpartikel in neuen Zusammensetzungen, leben ganz in der Logik des lyrischen Denkens. Der Arbeitsprozess selbst bleibt Thema, man sieht dem Gedankenapparat bei der Arbeit zu in einer Transparenz, die auf Chiffren verzichtet, Evidenzen sucht, Metaphern und Vergleiche immer ironisch offensichtlich anlegt. Ein unterschwelliger, im Idiom angelegter Gehalt soll sichtbar gemacht werden, aufgedeckt wird nicht im Sinn des Skandalösen, sondern eher, wie man Dinge wendet, um ihre Kehrseite zu sehen. Teil des Verfahrens sind auch Leerläufe, die in Überraschungseffekten münden. Das kann heiter oder trivial ausfallen, in seinen besten Momenten führt es aber zu einer Betroffenheit, die vom Inkommensurablen der Existenz weiß.
Wimmer geht es um kleine Irritationen und das Momenthafte, ihn motiviert das Nicht-Verstehen, die Anerkennung des so Gegebenen. Seine Poesie ist insofern unprätentiös, arbeitet mit Evidenzen und logischer Doppelbödigkeit, sie belehrt nicht und erklärt nicht hochtrabend, sondern hält konsequent die Position, arbeitet als eine Art Arte povera mit minimalen Mitteln unmittelbar an der Materialität, dem „Mutterstoff“ Sprache. Und sie spielt hier mit Mustern, Verweisen, lyrischen Grundformen der Bestandsaufnahme (siehe Günter Eichs Inventur), ist geschult an Jandls konkreter Poesie (als klare Paraphrase etwa im ersten Absatz des Titelgedichts), folgt im Gedicht speisen und getränke einer Struktur in Liesl Ujvarys frühem Band Sicher & Gut, in dem Freunde mit rhetorischen Sätzen typisiert werden (Wimmer benützt dafür ihre im Restaurant gewählten Speisen und Getränke), ein Okopenko gewidmetes okologisches jahr benützt eine dadaistische Verballhornungsmethode, dazu kommen Reaktionen auf Lektüreelemente von Darwin bis Edgar Allan Poe, mediale Kritik als Schelte oder Belustigung, Wortspiele auf der Basis von Homonymien, bis hin zum bildungsdialektalen Kalauer („winterweg/quo vadis?/nur wo gstraad is!“, S. S.107).
Immer wieder eingelagert finden sich aber auch kleine Momente im Zwischenraum des Glücks, die von einer Epoche zeugen, die in ihren hoffnungsfrohen Erwartungen und dem freudigen Aufsaugen der Eindrücke völlig inkommensurabel gegenüber den derzeitigen Apokalypse- und Katastrophenszenarien steht. Da geht einer entspannt und heiter als ein teil-autonomes Subjekt hinaus, ist unangefochten Teil des vertrauten Ganzen, wirft einen Blick auf seine poetische Nützbarkeit: „ein paar in offener permutation/alltäglich in der inneren stadt“, so Wimmer über seine damaligen osmotisch wahrnehmenden Stadtspaziergängen mit Elfriede Gerstl.
Die im Anhang genau datierten Gedichte (weitgehend chronologisch, mit wenigen, begründeten Umstellungen, einigen Produktionsschüben ebenso wie Unterbrechungszonen) bilden ein Puzzle der Sprachfühlung im täglichen „poetischen Akt“, sind luftig aufgebaut wie ein Kartenhaus, durch das man späht auf die umgebende Wirklichkeit.