#Prosa

Großmuttermorgenland

Josef Oberhollenzer

// Rezension von Walter Wagner

Schon auf der ersten Seite wird eines klar: Hier ist ein Meister am Werk, der seine Prosa in weit ausholenden Perioden sicher und stetig zelebriert. Und es ist ein Dilemma, dass dem bescheidenen Leser sogleich Thomas Bernhard in den Sinn kommt, weil jegliche Arbeit an der Politur der Sprache sofort und mit unausweichlicher Konsequenz den Ohlsdorfer zum Leben erweckt. Dabei ist Oberhollenzer stiller, sensibler und verweigert sich bei allem Realismus dem Brachialen. Gewiss, es lassen sich auch thematisch Parallelen ziehen, etwa zu Ein Kind, Schöne Tage oder gar Lenz, ohne dass solcherart wirklich Erhellendes über die Erzählung zutage träte. Schreiber sind eben Leser und Literatur entsteht (nicht nur) aus Literatur.

Palimpsest hin oder her, diese Problematik verliert ihr Interesse, sobald wir in den Text eintauchen, der von einer Vergangenheit in einem Südtiroler Dorf erzählt, wo winters eisiger Wind durch die Ritzen des Plumpsklos pfeift und unsittliche Gedanken den Sünder in Seelenpein stürzen. Schon früh lernt der Erzähler, was es heißt, mit zu viel Fantasie begabt zu sein. Oft überfallen ihn Ängste, die ihn auffräßen, wäre da nicht die Großmutter, deren Schutz und Zuneigung er sich anheim stellt. Alle sagen nämlich, dass viel Denken krank mache, gleichwohl kann der Knabe nicht aufhören, das Surren im Kopf abzustellen. Unablässig bedrängt ihn nämlich die Frage, ob „die gewohnte talwelt die allein richtige welt sei in der welt“ oder vielleicht doch eine andere existiere, die über Großmutters beruhigendes Universum hinausgeht.

Es ist die Geschichte einer ländlichen Kindheit, die in Großmuttermorgenland nachgezeichnet wird und die von Anfang an keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, wo das Paradies nicht liegt. Denn wer an die Idylle zwischen steilen Hängen und schroffen Gipfeln glaubt, muss Städter oder unverbesserlicher Romantiker sein.

Oberhollenzer weiß um die Schrecken und Finsternis der Äcker und Fluren, wo Alkohol, Suizid und Sauschlachten ihren angestammten Platz haben. Sentimentalität und Tiefsinn sind in diesem Kosmos verpönt und führen konsequent ins gesellschaftliche Abseits. Insofern ist der Weg des Protagonisten vorgezeichnet. Er vermag seine „heidenangst“ zwar nicht zu bändigen, entdeckt dafür aber das Opium der Literatur, das freilich seine Außenseiterrolle besiegelt.

Dem trinkenden Vater bleibt er körperlich unterlegen, der Mutter fremd. Allein die Großmutter scheint die Persönlichkeit des Knaben zu erahnen und schenkt ihm eines Tages den Neuen Großen Weltatlas. Nun ist es gewiss: Hinter den Bergen gibt es Länder und Kontinente, die so wirklich sind wie das von ihm imaginierte „mondirien“.

Der breiten Darstellung des Heranwachsens folgt quasi wie im Nachspann der geraffte Rückblick auf die Ehe mit Magdalena, die Geburt der Tochter und den seelischen Zusammenbruch des Helden.

Oberhollenzers virtuose Prosa reiht sich mühelos in den Kanon der großen Kindheitserinnerungen ein; sie macht uns zudem mit einem Stück Zeitgeschichte behutsam vertraut. Von den verhassten Welschen ist die Rede, von Gagarins Ausflug ins All und dem aufkommenden Tourismus, der mit Bussen und Autos das Tal überrollt, um das bäuerliche Genrebild in eine „prosperierende einöde“ zu verwandeln. „[…] Durchs offene fenster strömte die stille herein“, notiert der Autor wie beiläufig und zeigt einmal mehr, was große Kunst vermag. Es scheint, als ob er alle erlittenen Verluste in dieses eine Bild hätte bannen wollen, in dem sich auch unsere ein wenig spiegeln …

Josef Oberhollenzer Großmuttermorgenland
Eine Erzählung aus den Bergen.
Bozen, Wien: Folio, 2007.
108 S.; geb.
ISBN 978-3-85256-379-4.

Rezension vom 10.09.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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