#Prosa

Grosnyi

Hans Augustin

// Rezension von Karin Cerny

Fünf Erzählungen, angesiedelt in fünf verschiedenen Ländern. Die junge Russin Tatjana in Grosnyi zielt als Heckenschützin in Tschetschenien auf ihre eigenen Landsleute, um das nötige Geld für ihre Hochzeit aufzutreiben. Für jeden toten russischen Soldaten sind ihr hundert Dollar versprochen.

Bei ihrem ersten Einsatz wird sie gefaßt und mit beiden Beinen an zwei Panzer gebunden. Dann starten die Panzer in verschiedene Richtungen.
An dieser Stelle wechselt Augustin seinen Blickwinkel, die Geschichte verlagert sich auf die Suche des Verlobten nach seiner vermißten Freundin, seinen Briefwechsel mit deren Mutter und den folgenden Prozeß des für ihren Tod verantwortlichen Leutnants. Durch diesen Perspektivenwechsel entsteht eine Art Kaleidoskop, das den Blick freigibt auf die verschiedenen Motive, die den Handlungen zugrunde lagen, aber auch auf den Versuch des Staates, den Krieg in Tschetschenien möglichst unerwähnt zu lassen.

Ähnlich analytisch aufgebaut ist „Nicht von Brot allein“. Bei einem Flugzeugabsturz in Bolivien gehen die Behörden davon aus, daß es keine Überlebenden gibt. Die Bergungsarbeiten verschleppen sich. Der verantwortliche Untersuchungsrichter muß sich später im Gerichtsprozeß vom einzigen Überlebenden die traurige Gewißheit holen, daß seiner Geliebten, die sich zufällig in diesem Flugzeug befand, beide Beine abgetrennt wurden und sie daran verblutete. Um zu überleben, mußte sich der Gerettete von seinen toten Mitpassagieren ernähren. Der Untersuchungsrichter verkneift sich die Frage nach dem Geschmack des toten Fleisches seiner Freundin. Plötzlich ist sein in innigster Lust gehegter Gedanke, „sie fressen zu wollen, sich einen Teil ihres Leibes einzuverleiben“
(S. 51), bedrohlich real geworden.

In der umfangreichsten Geschichte, „Der Mann im Wäldchen“, wird ein Japaner achtunddreißig Jahre nach dem Bombenabwurf auf Hiroshima im Wald gefunden. Er wußte nicht, daß der Krieg zu Ende ist, dachte, er sei der einzige Überlebende der Katastrophe. Die Journalisten reißen sich um ihn, solange er nichts Negatives über die Rolle Japans im asiatischen Raum und die daraus entstandenen Kriege sagt.

Hans Augustin schreibt über Themen, die als kurze Meldungen tagtäglich unsere Zeitungen füllen: grausamer Tod einer Heckenschützin während des Tschetschenien-Krieges, Selbstmordversuch eines Afrikaners, dessen Asylantrag abgelehnt wurde, Flugzeugabsturz in Bolivien. Die Art der Behandlung unterscheidet seine „Erzählungen“ jedoch grundlegend von der Zeitungsstory. Augustin erzählt nicht nur aus einer Perspektive, er trägt ähnlich einem Puzzle verschiedenste Teile zusammen, bis ein fertiges Bild entsteht, das freilich noch immer voller offener Fragen bleibt: ein Bündel unterschiedlicher, nicht zu vereinbarender Interessen. Was möchte der Staat, was will der Einzelne, wie wird man durch bestimmte politische Konstellationen gezwungen, sich so zu verhalten, wie man es nie für möglich gehalten hat? Thematisch unternehmen seine Erzählungen den Versuch, Leben von Menschen zu rekonstruieren, die in den Strudel der Geschichte gezogen wurden und sich dadurch plötzlich in aberwitzig grausamen, in unfaßbar absurden Situationen wiederfinden. Sie sind als vorsichtige, vielschichtige und nicht zuletzt engagierte Annäherungen an diese Leben und an wichtige politische Ereignisse unseres Jahrhunderts zu verstehen.

Hans Augustin Grosnyi
Und andere Erzählungen.
Innsbruck: Edition Löwenzahn, 1998.
109 S., brosch.
ISBN 3-7066-2174-6.

Rezension vom 10.12.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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