#Anthologie

Grenzräume

Beatrice Simonsen (Hrsg.)

// Rezension von Martin Reiterer

„Südtirol und die Überwindung der Geschichte in Richtung Europa“, strahlt es vom Klappentext. Ob die Literatur aus Südtirol als ein Modell für Europa oder immerhin als Beispiel betrachtet werden kann? Das wäre – wie man kürzlich (anlässlich der Verleihung des Walther-von-der-Vogelweide -Preises) von Josef Zoderer hörte – bestenfalls „politisches Marzipangerede“.

Tatsächlich gerinnt die Perspektive einer Kulturbetrachtung Südtirols, die sich am Status einer europäischen Modellhaftigkeit labt, vielfach zur heimatlichen Selbstbeweihräucherung. Dennoch stand die Frage nach einer solchen Vorbildfunktion Südtirols in Europa am Beginn einer Präsentation der neu erschienenen Anthologie Grenzräume im Wiener Literaturhaus, gleichsam als Leitfrage zu dem vorgestellten Band. Zugleich und andererseits kündigte Armin Gatterer von der Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung das Ende einer Südtirol-Literatur an, das Profil und die Konturen einer solchen wären wesentlich im Kontext von Grenzlinien entstanden, die es heute in Europa schon nicht mehr in dieser Weise gebe und die in Zukunft weiter aufgehoben würden.

Schließlich lässt sich aus dem Unternehmen des vorliegenden Bandes der Anspruch einer Bestandsaufnahme, eines Rückblicks ablesen; wie die Herausgeberin Beatrice Simonsen im Nachwort erläutert, handelt es sich um eine „Anthologie literarischer Beispiele, denen quasi in ‚Dialogform‘ jeweils kritische Texte von ‚Innen- und Außenstehenden‘ beigestellt sind“, um ein differenziertes Bild des Sprach- und Grenzraumes Südtirol zu zeichnen.

Der Band enthält daher – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bereits publizierte Texte bzw. Textauszüge von Autoren und Autorinnen, die allesamt über die Grenzen des Landes hinaus bekannt sind und im Literaturgeschehen vorwiegend der letzten Dutzend Jahre präsent waren oder durch ihre Werke auch Aufsehen erregten. Den Beginn markiert ein Auszug aus Franz Tumlers (1912-1998) Roman Aufschreibungen aus Trient. Der Wiener Autor und Germanist Martin Kubaczek skizziert mit Blick auf Tumlers Gesamtwerk jene Schnittlinien, wo sich im Roman Verdrängung und Aufarbeitung autobiographischer Geschichte mit jener der Geschichte des Landes Südtirol treffen.

Mit der Thematisierung von Fragen, die dezidiert die politische, historische und kulturelle Lage des Landes betreffen, sind eine Reihe von AutorInnen befasst. Freilich nimmt hier Joseph Zoderer (*1935) eine zentrale Position ein. Sein bereits mehrfach publizierter autobiografischer Text über die Option 1939 (die Südtiroler Bevölkerung hatte sich fürs Auswandern ins Deutsche Reich oder fürs Dableiben im faschistischen Italien zu entscheiden), Wir gingen / Ce n’andammo, jeweils von vorne bzw. hinten auf Italienisch und Deutsch zu lesen, kann hier als beispielhaftes Statement dieses Autors gelten. Die kurze Erzählung ist auch ein Beispiel, wie Erinnern in Südtirol unwillkürlich über die Grenzen einer Sprachgruppe hinausführen kann.

Auch jüngere AutorInnen wie Helene Flöss (*1954) und Sepp Mall (*1955) – hier vertreten mit Löwen im Holz resp. Wundränder – haben zuletzt immer wieder Themen und Traumata der Südtiroler Geschichte, vom Ersten Weltkrieg bis zu den Anschlägen der als Bumser bekannten Südtiroler Terroristen der sechziger Jahre, aufgegriffen, um Ansätze einer literarischen regionalen Geschichtsbetrachtung zu bemühen, welche den labilen Begriff der Heimat zwischen Tradition, Identitätsgefährdung und Identitätswandel zu orten versucht. Die in Südtirol lebende ursprünglich deutsche Journalistin Nina Schröder verteidigt deren abgelegte Scheu, sich Themen aus der Provinz anzunähern, denn der verbreiteten Angst vor Provinzialismus sei nicht durch Vermeidung provinzieller Themen zu begegnen.

Dem Text von Zoderer ist noch ein Erinnerungstext von Herbert Rosendorfer (*1934) gegenübergestellt, der hier aus einem saturierten Blickwinkel unter anderem seine späte Rückkehr ins „Paradies“ Südtirol begründet (wie Zoderer hatte Rosendorfer als Kind zur Optionszeit mit seiner Familie das Land verlassen). Allein mit einem Hinweis auf die Vielfalt von Standpunkten lässt sich jedoch die Aufnahme dieses ärgerlich schlechten Textes nicht begründen. Mit der Anerkennung Tumlers als „Vater der Südtiroler Literatur“ knüpft die Anthologie an jener Stelle der Südtirol-Literatur an, wo einst ein Literaturskandal die Gemüter heftigst zu erregen vermochte, ausgelöst durch Norbert C. Kasers Brixner Rede (1969), in der der Autor nicht nur dem seinerzeit kalten kulturpolitischen Klima des Landes mit der Ankündigung einer kommenden Literatur gleichsam drohte, sondern diese Prophezeiung zugleich mit Blick auf die italienischsprachige Seite geltend machte.

Dass gerade Kaser (1947-1978) und der kürzlich verstorbene Gerhard Kofler (1949-2005), beide auf unterschiedliche Weise programmatisch, sich literarisch eingehend mit der italienischen Sprache auseinander gesetzt sowie in ihr geschrieben haben, ist ein Glücksfall, durch den „das Spektrum der Literatur, die mit Südtirol in Zusammenhang gebracht werden kann, gewaltig erweitert (wurde)“, wie der Wiener Germanistikprofessor Wendelin Schmidt-Dengler in seinem Beitrag deutlich macht.

Von hier aus betrachtet ist es folgerichtig, ja unerlässlich, dass die Anthologie ebenso die italienischsprachige Literatur des Landes mit einbezieht wie auch die ladinischsprachige Seite. Da kann man einen Auszug aus dem zuletzt erschienen Roman Alessandro Bandas (La cittá dove le donne dicono di no) wie alle italienischen Texte auch auf Deutsch lesen; Banda (*1963) gehört der jüngeren Autorengeneration und hat mit seinen spielerisch-surrealen Texten zuletzt auch im italienischsprachigen Raum außerhalb der Provinz aufhorchen lassen. Dazu kommt ein essayistischer Text von Paolo Valente (*1966) über Scrivere nel Sudtirolo plurilingue / Schreiben im mehrsprachigen Südtirol und ein literaturgeschichtlicher Abriss über die italienischsprachige Literatur in Südtirol von Carlo Romeo (*1962), der dabei explizit an Kasers Rede von 1969 anknüpft. Freilich wäre es interessant gewesen, die Berührungspunkte oder eben auch die Unterschiede der Literaturen des Landes stärker mit literarischen Beispielen von italienischer Seite zu belegen und zueinander in Bezug zu setzen.

Der Beitrag zur Situation des Ladinischen von Rut Bernardi (*1962) ist leider insgesamt etwas schwach und larmoyant in der Beschreibung des tragischen Untergangs dieser Sprach- und Literaturwelt. Demgegenüber wirkt der Reiseessay von Karl-Markus Gauss über die Zimbern im benachbarten Trentino, wie bereits der Titel Die fröhlichen Untergeher von Roana ahnen lässt, erfrischend, aber es ist nicht ganz klar, warum dieser Text genau in diese Anthologie passen soll.

Was die deutschsprachige Literatur des Landes betrifft, werden selbstverständlich noch weitere Positionen einbezogen. Unter dem Gesichtspunkt der Distanzierung von der Provinz und ihrer Umkreisung bzw. einer späteren Rückkehr versucht Karin Dalla Torre (Leiterin der Dokumentationsstelle für neuere Südtiroler Literatur) das Schreiben dreier insbesondere für ihr Sprachbewusstsein bemerkenswerter Autorinnen zueinander in Beziehung zu setzen, und setzt ihnen implizit eine bis auf weiteres unbekannte Maria Ditha Santifaller (1904-1978) als literarische Vorgängerin voran. Die Auszüge aus Anita Pichlers (1948-1997) Haga Zussa. Die Zaunreiterin, Sabine Grubers (1963) Aushäusige, Maria Elisabeth Brunners (1957) Berge Meere Menschen – in allen drei Fällen handelt es sich um das Debüt der jeweiligen Autorin – gehen daher dem Motiv einer „Sehnsucht nach anderen, nach neuen Orten“ nach, die dann als Sehnsucht nach einer Welt der Wörter geortet wird. Herausgestrichen wird die mehr oder weniger indirekte Auseinandersetzung mit dem italienisch- und deutschsprachigen Raum, mit der Zweisprachigkeit, mit der Fremdheit da und dort. Der Text installiert völlig ahistorisch ein Sehnsuchtsmotiv über drei Generationen von Frauen hinweg. Dadurch auch drückt er die jeweils spezifische und weibliche Erfahrung von Repression, Macht und Gewalt beiseite, die in den Romanwelten der Schriftstellerinnen das individuelle und sprachliche Handeln weitgehend determinieren und wohl auch gefährden.

Schließlich enthält der Band noch zwei Originalbeiträge von zwei AutorInnen der jüngsten Generation: Bettina Galvagni (*1976) hat mit ihren Romanen (Melancholia und Persona) im gesamten deutschsprachigen Raum auf sich aufmerksam gemacht, und auch Martin Pichler (*1970) ist zumindest in Österreich durch seine Bücher (Lunaspina, Nachtwache) ins Bewusstsein gerückt. Der Innsbrucker Germanistikprofessor Johann Holzner geht nicht nur auf die Texte der beiden AutorInnen ein, sondern zeigt an deren Beispiel auch auf, wie sich eine Verschiebung weg von den diversen Südtirol-Thematiken feststellen lässt, und zwar nicht, weil sich die Rahmenbedingungen so sehr geändert hätten, sondern „vor allem deshalb, weil neue Werke aufgetaucht sind [von AutorInnen], die sich um die alten Regeln dieses Spiels nicht länger kümmern“. Die Beschreitung dieses Weges hat zweifellos in unterschiedlichem Grad auch bei zuvor genannten AutorInnen bereits stattgefunden.

Dass eine Anthologie wie die vorliegende auswählt, ist zweifellos sinnvoll, dennoch stellt sich die Frage, warum beispielsweise ein Autor wie Oswald Egger, der eine für das Literaturgeschehen des Landes prägende wenn auch kontroversielle Position darstellt, hier fehlt, wenn andererseits sogar zweimal auf ihn verwiesen wird, als „schlagendes Beispiel dafür, wie gerade die Literatur aus Südtirol zum Paradigma für den Beginn einer neuen europäischen Literatur werden könnte“ (Schmidt-Dengler).

Der Ansatz einer Dialogisierung der verschiedenen literarischen Positionen aller drei Literaturen des Landes scheint zweifellos spannend und anregend, nötig wäre dann aber auch – und zwar durchaus im Sinne des impliziten Konzepts des Anthologie -, den kultur- und sprachenpolitischen Rahmen dieses Literaturgeschehens zu umreißen und zu befragen. Das wäre etwa anstelle des allzu allgemeinen, davon aber ablenkenden Beitrages Brainstorming von Armin Gatterer, der der Anthologie vorangestellt ist, gut möglich gewesen. Warum etwa betreibt dieses Land inmitten eines Europa der Sprachen und der aufgehobenen Sprachgrenzen noch immer teilweise eine völlig unzeitgemäße Trennungspolitik in Hinblick auf Zwei-/Mehrsprachigkeit (siehe etwa das nicht durchgesetzte zweisprachige Schulmodell) oder Interkulturalität. Dieser Umstand nämlich wirkt sich eben auch auf das Nebeneinander-Dasein der Literaturen des Landes aus – freilich und zum Glück scheint es inzwischen ungeachtet einer dafür nicht zuträglichen Kulturpolitik die Begegnungen zwischen AutorInnen verstärkt zu geben – oder vermag zu erklären, warum beispielsweise ein Autor wie Gerhard Kofler, der alle seine Texte auf Italienisch schreibt und auf Deutsch nachdichtet, in dieser so nach Europa schielenden Provinz noch weitgehend ignoriert wird.

Die Anthologie hält sich da leider allzu sehr in jener „Entfernung“ auf, in der irrtümlich alles als „Reiz“ erscheint, „der aus der Reibung verschiedener Kulturgruppen entsteht“, und das, obwohl die Herausgeberin selbst festhält: „Je näher man rückt“ … – desto weniger ist dem so.

Genauso wie dieser Reiz täuscht, ist es unzulässig, die Literatur in Südtirol auf einen nicht weniger bedenklichen Ursprung zurückzuführen: „Für alle [AutorInnen] gemeinsam liegen die Wurzeln ihres Schreibens in dieser Heimat, mit der man sich kritisch auseinander setzt.“

Grenzräume. Eine literarische Landkarte Südtirols.
Anthologie.
Bozen: Edition Raetia, 2005.
230 Seiten, gebunden.
ISBN 88-7283-243-8.

Verlagsseite mit Informationen über das Buch

Rezension vom 21.11.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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