#Roman

Graubart Boulevard

Christoph W. Bauer

// Rezension von Jelena Dabić

Wie viel Geschichte verträgt Literatur? Jede Menge, vorausgesetzt, sie bleibt Literatur. Wie viel Literatur verträgt Geschichte? Wohl auch ein bisschen, wenn sie dadurch anschaulicher und plastischer wird. Und was ist das Problem literarischer Texte mit einer klaren thematischen Vorgabe?

Christoph W. Bauer, in Innsbruck lebender und längst anerkannter Lyriker und Prosaist, schickt sich in seinem jüngsten Buch an, die Geschichte einer verfolgten jüdischen Innsbrucker Familie zu erzählen. Richard Graubart – in Galizien, der Heimat von Graubarts Vorfahren, kein seltener Name – war ein erfolgreicher Schuhfabrikant und -händler; das Geschäft, das er von seinem Vater geerbt hatte, stand in bester Lage in der Innsbrucker Museumstraße, bis es in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von einer großen Schuhhandelskette übernommen wurde. Graubart, gebürtiger Innsbrucker, assimilierter Jude, fortschrittlich orientierter Staatsbürger und vorbildlicher Tiroler – begeisterter Schifahrer und Bergsteiger – wird nach einer Reihe von Demütigungen, Repressalien und Einschüchterungsversuchen in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von mehreren SS-Leuten in seiner Wohnung überfallen und erstochen. Seine Frau Margarethe Graubart und die vierjährige Tochter Vera bleiben verschont. Mit viel Geschick und der Hilfe von Freunden und Verwandten gelingt den beiden die Flucht nach Wien und in weiterer Folge nach London. Nach dem Krieg kehren beide zeitweise nach Innsbruck zurück, Veras Hauptwohnsitz bleibt aber in Großbritannien.

Der Ausgangs- und Endpunkt von Bauers langem Bericht ist der Mord an Richard Graubart. Die Aufklärung dieses Mordes und die eingehende Analyse der historischen, politischen und sozialen Umstände, unter denen er erfolgte, wächst sich unmerklich zum Gesamtbild einer ganzen Epoche aus – und zugleich zur Lebensgeschichte einer ganzen Volksgruppe: der osteuropäischen Juden, die es Ende des 19. Jahrhunderts aus den östlichen Provinzen der Monarchie in die Hauptstadt zog. Nur wenige von ihnen – wie Richards Vater Simon – zogen weiter in den Westen und siedelten sich u. a. in Tirol an. Bauers Blick gilt in dieser Darstellung in erster Linie der Lage der Tiroler Juden des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Tatsächlich erweist sich das Buch als sehr informativ und bringt eine ganze Reihe von – auch erschütternden – Erkenntnissen. In einer großen Rückblende veranschaulicht es das jüdische Leben in einem kleinen galizischen Stetl; die Juden der Monarchie waren überzeugte Anhänger von Franz Josef, der ihnen immer noch mehr Rechte einräumte als die ukrainischen Herrscher. Allerdings bot die von mehreren Krisen heimgesuchte Provinz kaum mehr Perspektiven, sodass sich immer mehr junge Leute für eine Emigration Richtung Wien entschieden. Die nächste große Station zeigt Simon Graubarts Versuch, sich in Tirol niederzulassen und geschäftlich zu etablieren, was ihm außerordentlich gut gelingt. Immer wieder sind es die erstaunlich festen und weit gesponnenen sozialen Netzwerke, die beinahe jede berufliche oder persönliche Entwicklung ermöglichen. Die Erkenntnis um ihre Wichtigkeit zieht sich durch den ganzen Text – ganz unabhängig vom jeweiligen Zeitpunk und dem Wohnort der Protagonisten. Dieses Tiroler Leben Simon Graubarts, der als junger Witwer noch einmal heiratet und Vater von insgesamt drei Söhnen wird, ist in einigen schönen Passagen geschildert: vor allem sind es lange Spaziergänge und Wanderungen in der Umgebung von Innsbruck, die die Familie Graubart Innsbruck lieb gewinnen lassen.

Die nächste Generation wächst nach und nach mitten in die schlimmsten Verfolgungen der Geschichte hinein, die all die Anfeindungen und Diskriminierungen, denen ihre Eltern und Großeltern immer wieder ausgesetzt waren, hundertfach übertreffen. Die Verfestigung des nationalsozialistischen Gedankens und seiner grausamen Praxis erfolgte (auch in Tirol) nur sehr schleichend. Dies anschaulich zu zeigen ist eine der größten Stärken dieses stilistisch nicht unproblematischen Buches. Die NSDAP war ja im Ständestaat eine verbotene Partei; die Übergriffe und Ausschreitungen, die auf ihr Konto gingen, wurden von der Polizei bekämpft und von der Bevölkerung mit Empörung und Entsetzen zur Kenntnis genommen. Der leise, allmähliche Übergang vom moralisch integren Staatsbürger zum regelrechten Nazi, vom Nachbarn, Bekannten oder Geschäftspartner zum Verräter, der sich freiwillig und ohne mit der Wimper zu zucken für Misshandlungen und Mord an jüdischen Mitbürgern einsetzen ließ, kommt anhand der Geschichte von Richard Graubart sehr überzeugend heraus. Nicht anders sieht es mit der unglaublichen Feigheit der Täter nach 1945 aus: Hans Aichinger, mit Sicherheit der Hauptschuldige im Mordfall und der eigentliche Mörder Richard Graubarts, reicht nach seinem etwa zehnjährigen Untertauchen in Italien und Deutschland gleich mehrere Gnadengesuche ein und erreicht damit tatsächlich, mit lächerlichen drei Jahren Haft davon zu kommen. Die durchwegs äußerst milde Bestrafung der Täter ist überhaupt (auch in Tirol) die Regel und nicht die Ausnahme, genauso ihre baldige Rehabilitierung und Rückkehr ins Berufsleben und sogar in wichtige Ämter – ein weiterer Hohn für die Opfer und eine Ernüchterung für die Leser.

Bei all seiner inhaltlichen Reichhaltigkeit hat Graubart Boulevard ein grundsätzliches Problem: seinen Stil. Das gattungsmäßig nirgends zuordenbare Buch, das sich aber offenbar doch als literarisches Werk versteht, erfüllt den ästhetischen Anspruch nicht: Der sprachsensible Leser wird enttäuscht, zumal er Bauer als Lyriker kennt und schätzt. Denn hier berichtet der Autor in einem fort, anstatt zu erzählen; hetzt von einem Faktum zum nächsten, anstatt zu beschreiben; es gelingt ihm aber auch nicht, das Emotionale ganz wegzulassen, sodass sich der Text über weite Strecken wie ein überlanger Zeitungsartikel liest.
Ob es tatsächlich einen etablierten und mehrfach ausgezeichneten Literaten braucht, um den Berg an Quellen zu sichten und den Verlauf der Ereignisse brav niederzuschreiben, ist fraglich.
Schade darum, denn die Geschichte Richard Graubarts hätte den Stoff für einen äußerst spannenden Roman abgegeben. Wie man es anders hätte machen können? Man lese etwa „Das Buch Blam“ von Aleksandar Tisma.

Christoph W. Bauer Graubart Boulevard
Roman.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2008.
296 S.; geb.; m. 8 SW-Fotos.
ISBN 978-3-85218-572-9.

Rezension vom 09.02.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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