Ich habe mir vom größten Sohn unseres Landes wieder einmal etwas sagen und mich vom neuen Buch des 1930 in Leppen bei Eisenkappel geborenen Anton Haderlap fesseln lassen, von einem wichtigen Stück Erinnerungsliteratur, nein, nicht nur das: von einem sehr schön gelungenen Stück erzählender Prosa aus der Feder eines einfachen Mannes, der den Großteil seines Berufslebens als Holzknecht und Forstverwalter in einer deutschsprachigen Umgebung gearbeitet und erst sehr spät in seiner slowenischen Muttersprache zu schreiben begonnen hat. Dies vorweg zu sagen ist mir besonders wichtig: Haderlaps Graparji haben mit Lebensgeschichtenliteratur, wie sie Historiker von Zeitzeugen schreiben lassen, wenig zu tun und mit politisch-propagandistischen Rechtfertigungstexten schon überhaupt nichts. Die Schlichtheit, Aufrichtigkeit und Genauigkeit dieses Buchs sind literarische Qualitäten.
Auf den ersten 70 Seiten sind die Erinnerungen an den Frieden – die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg – ausgebreitet, an das Leben der Menschen in Leppen, einem der Gräben, die von den Haupttälern der Karawanken abzweigen, ein Kernraum des kärntner-slowenischen Siedlungsgebiets. Die Bewohner der Gräben, slowenisch grape, sind die ‚Graparji‘. Die Erzählung handelt von Armut, vom Existenzkampf, dem Ausgesetztsein gegenüber der Natur und dem Eingebundensein in ein bäuerliches Ordnungsbewusstsein. Die Bewohner des Vinkl-Hofs in Leppen erfahren sich nicht als Unterlegene, sondern als Menschen, die der Natur mit ihrem Verstand und ihrer Handfertigkeit trotzen. Die deutsche Übersetzung lässt beim deutschsprachigen Leser das Gefühl für das Slowenisch-Fremde nicht recht aufkommen, einige wenige bäuerliche Spezialausdrücke sind parallel zur Übersetzung auch auf Slowenisch angegeben, sonst sind es nur die Orts- und Flurnamen und die vielen Namen aus einem Geäst von Familien-, Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen, die uns vielleicht exotisch anmuten. Bestimmt überwiegt aber der Eindruck von einer intakten Welt beim Leser – das ist für das Spätere wichtig. In der Schilderung des Überlebenskampfes in den Karawankentälern scheinen Anklänge an einen großen Schilderer slowenischen Keuschler-Lebens durch, an Prezihov Voranc (eigentlich Lovro Kuhar, 1893-1950) und an seine Samorastniki (1940; deutsch „Wildwüchslinge“ 1963), doch ist Voranc naturalistisch grausam, Haderlap indessen mild gegenüber der Welt seiner Kindheit vor dem Krieg. Ein anderer Konnex lässt sich zu Florjan Lipus, seinen slowenischen Dorfgeschichten und Dorfgestalten und deren archaischem Ringen mit der Karawankenkärntner Natur ziehen, doch Lipus dekonstruiert das Bäuerliche mithilfe einer Kunstsprache, während der einfache Mensch Anton Haderlap mit seinen Kindheitserinnerungen für alle lesbar bleibt.
Der Krieg, nicht der große Unrechtskrieg des Deutschen Reiches gegen die Welt, sondern der Ausrottungsfeldzug des Nazi-Regimes gegen die völlig wehrlosen nichtdeutschsprachigen Bevölkerungen an den Rändern dieses eingebildeten Reiches trifft die Graparji schließlich mit voller Gewalt, nachdem sich die Schatten des Terrors über den Gräben erst nur in scheinbar unmerklichen Schritten bemerkbar gemacht haben.
Der Raub der Sprache (‚Kärntner, sprich deutsch!‘), die Gerüchte über ‚Aussiedelungen‘, also Deportationsdrohungen, dann die tatsächliche Deportation der Mutter ins KZ Ravensbrück, dann schließlich direkter Terror gegen die verbliebene Leppener Bevölkerung – erzählt ist dies in einer Weise, welche die Unschuld der Graparji meisterhaft deutlich macht, deren reines Dasein bei der Gegenseite den Vernichtungswunsch ausgelöst hat. Man weiß heute, welche sozialpsychologischen Mechanismen den so genannten ‚Slowenenhass‘ der so genannten ‚Deutschkärntner‘ ausgelöst haben, in den Erinnerungen von Anton Haderlap steht darüber nichts, er erzählt nur, was er als Kind, als reines Opfer erlebt hat.
Tonci und Zdravko, zwei Kinder, 12 und 14 Jahre alt, sind zu Partisanenkindern gemacht worden, ohne eigenes Zutun und wider Willen. Im Zentrum des Buchs steht die Zeit in den Wäldern nördlich und südlich des Karawankenkamms von 20. Oktober 1944 bis 13. Mai 1945. Diese Zeit wird ohne Idealisierung, ohne Pathos, nicht im Ton des Heroismus beschrieben, sondern in derselben schlichten Sprache wie die Zeit des Friedens. Es gibt keine laut ausgestalteten Kampfesszenen, sondern nur die stumm tot Daliegenden, die ausgebrannten Höfe, die Angst, die Entbehrungen, aber auch den stillen Mut, das Überzeugtsein, wenigstens auf der richtigen Seite zu stehen.
Die Schluss-Szene des Buchs ist in ihrer Weise fast ebenso ergreifend wie das Ende des Dokumentarfilms über die Kärntner Partisanen von Andrina Mracnikar („Der Kärntner spricht deutsch“, 2006), wo einer der zwei Überlebenden des Massakers am Persmanhof, damals ein Kind, heute ein alter Mann, die Geschichte seines Überlebens erzählt. Am Ende von Anton Haderlaps Buch steht auch das Überleben: der Vater und die beiden Brüder kehren auf den verlassenen Vinkl-Hof zurück, sie warten monatelang auf die Heimkehr der Frau, der Mutter aus dem Konzentrationslager (siehe Leseprobe).
In diesem Jahr würde ich dieses Buch allen schenken, die etwas aus Kärnten lesen wollen.