Phänomenal sind auch die Nebeneffekte. Seine Verlegerin? Hingerissen: Gotland sei mit Abstand das Gewaltigste, was sie je gelesen (und sie hätte schließlich ziemlich alles Relevante gelesen); die Menschen würden vor den Buchhandlungen Schlange stehen […] man würde mir Denkmäler bauen, noch zu Lebzeiten.“ Denkmäler wegen eines Buches? Hier wird klar: Michael Stavaric erlaubt sich einen Scherz mit den LeserInnen. Das Vorwort erzähle, so die Worte des Erzählers, die Geschichte eines „wahnwitzige[n] Traums“, eines anderen Romans namens Gotland. Dessen Entstehung und Ende der Beginn für ein neues Gotland war. Und ebendiesen Roman liest man nun ab Seite 19 des Buches.
Der 1972 in Brünn geborene, mit sieben Jahren nach Österreich gezogene, und nun in Wien lebende Stavaric lässt die Geschichte seines neuesten Romans auf der schwedischen Insel Gotland und in Wien spielen. Dabei ist der Roman in drei Bücher geteilt: „Genesis“, „Das Buch von Charles“ und „Das Gutachten“. Das ganze wiederum eingerahmt durch das Vorwort, den Prolog und den Epilog.
In „Genesis“ wird die Geschichte des zunächst namenlosen Protagonisten erzählt. Seine Mutter zieht ihn allein auf. Die Rolle des Vaters übernimmt für ihn kein geringerer als Gott. Ihn habe er immer vor Augen. Sei es im Schultheater oder beim Tauklettern im Turnunterricht: „Wenn ich an der Decke hing und nach unten blickte, dachte ich manchmal daran, dass Gott und wohl ständig so sah, immer von oben, aus einer ganz seltsamen Perspektive, in der Menschen schlichtweg lächerlich schienen […].“Menschen, Tiere, Pflanzen – sie alle sind für den Jungen nur durch Gottes Hand zu retten. Genau wie einst bei Abraham. Ein Ruf des Jungen nach göttlicher Gnade bleibt ungehört: „Ich zündete den Pappkarton an, bereit, das Feuer jederzeit und mit bloßen Händen zu löschen, den Vogel sofort zu retten, ich wartete auf Gottes Zeichen, er musste einfach einschreiten, alles andere war, auch nach all den Geschichten, die mir Mutter von ihm erzählt hatte, undenkbar.“ (76) Der Junge unschuldig und rein? Mitnichten.
Mit dem Abschnitt „Das Buch von Charles“ kommt es zu einem Sprung. Wir sind nicht mehr in Wien, sondern auf Gotland. Der Erzähler, nun erwachsen, berichtet von seiner Beziehung zur Mutter und von seinem geistigen Führer Charles. Seine Äußerungen gleichen Protokollen. Die Absätze werden mit „Ich wurde gefragt“ eingeleitet. Er berichtet von Engeln, Steinbrüchen und den surrealen Bewohnern Gotlands, „manche sogar aus Lehm und Erde geformt und dort, wo eigentlich die Haare sprießen sollten, wuchsen Heidekräuter von ihren Köpfen.“ Dazwischen immer wieder Einsprengsel seiner Jugend: Von der Faszination für den Körper seiner Mutter, seinen ersten Erfahrungen mit Frauen und seinen ersten Enttäuschungen. Der schlafende Körper der Mutter weckt religiöse Gefühle in ihm, er fühlte sich als wäre er „kurz zu Besuch im Haus des Herrn, bei »Gottmutter«, es war etwas Schönes und zutiefst Feierliches; meistens kämmte ich mir zuvor im Bad die Haare […].“ Die Unschuld der ersten Kapitel ist dahin. Der Erzähler wird immer fragwürdiger – und mit ihm die ganze Handlung. Wer ist dieser Charles? Wer ist der Erzähler? Wem gilt der letzte Abschnitt „Gutachten“? Uns?
Die konventionelle Erzählung verheddert sich immer mehr in einem surrealen Netz. Jeder Absatz steigert die Furcht, aber auch die Neugier. Man begegnet Engelsgesichtern, Steinminen und schließlich gar Gott? Stavaric ist mit Gotland ein packender Roman gelungen, dessen Bilder einen noch Tage und Nächte verfolgen.
Michael Stavaric legt im Frühjahr 2017 noch zwei weitere Bücher vor, die mit dem Roman Gotland in Verbindung stehen: das Kinderbuch Als der Elsternkönig sein Weiß verlor mit Illustrationen von Linda Wolfsgruber und den an H.C. Artmann angelehnten Gedichtband in an schwoazzn kittl gwicklt. Dem Autor zufolge sind Kinderbuch und Gedichtband Mosaiksteine des Romans.