#Roman

Glücklich, wer vergisst

Edith Kneifl

// Rezension von Judith Leister

Die Welt ist noch in Ordnung für die 14jährige Joe Bellini, die mit ihren Eltern die Sommerfrische am Attersee verbringt – soweit, wie für eine Pubertierende die Welt eben in Ordnung sein kann. Gemeinsam mit ihrer Freundin Franzi, der Tochter der „Baronin“ und Schlosshotelbesitzerin sowie zwei gleichaltrigen Jungs unternimmt Joe Fahrradtouren im Regen und Mutproben in der Badeanstalt, hadert alterstypisch mit ihrem Körper und verliebt sich (unglücklich). Das Idyll auf Zeit hat jedoch ein Ende, als Joe mit ansehen muss, wie Franzi vergewaltigt wird. Die Sache wird unter den Teppich gekehrt. Die Familie Bellini fährt nie wieder an den Attersee.

30 Jahre lässt Edith Kneifl in ihrem dritten Joe-Bellini-Krimi ins Land gehen, bevor der Vergewaltiger endlich gefunden wird. Anlass dafür ist ein weiteres Verbrechen. Joe, die inzwischen Psychoanalytikerin ist und schon mehrfach als Hobbydetektivin tätig war, wird plötzlich von ihrem Vater angerufen. Dieser teilt ihr aufgeregt mit, dass Franzi des Mordes an ihrem Stiefvater, einem erfolglosen Kammersänger, verdächtigt werde. Bei der Gelegenheit erfährt Joe auch, dass Franzi eine Tochter von Bellini senior, also Joes Halbschwester aus der Liaison mit der Baronin ist. Sofort eilt Joe an den Attersee, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Dort trifft sie nicht nur ihre Jugendfreunde Willy und Gustav wieder, sondern stellt zu ihrer Überraschung fest, dass Franzi einen Sohn hat, der schon erstaunlich groß ist. Während Joe noch in Erinnerungen an die Vergangenheit schwelgt, geschieht ein zweiter Mord. Nach dem Fund eines abgeschnittenen Kopfes im Bootshaus werden weitere Körperteile aus dem See gefischt. Nicht nur Joe stellt sich die Frage, ob die beiden Morde zusammen hängen.

Im Wechsel zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsebene entwickelt Edith Kneifl sehr subtil die Psychogramme der handelnden Personen, die natürlich allesamt Verdächtige sind. Da ist die elegante und undurchschaubare Baronin Walpurga, die einst durch Heirat mit dem alten Baron Welschenbach zu ihrem Adelstitel gekommen ist und durch den Mord nun schon den zweiten Gatten verloren hat. Da ist ihr adelsstolzer und melancholischer Sohn Albert, in den Joe als Kind schwer verliebt war und der noch immer bei der Frau Mama im Schloss haust, wo er sich die Zeit mit „Studien“ vertreibt. Da ist Franzi selbst, die sogar im Knast nichts besseres zu tun hat als Joes Freund, einem herbeigeeilten Wiener Polizeimajor, schöne Augen zu machen. Und da ist Franzis Sohn Marco, ein patenter und sympathischer Kerl, der am See eine eigene Kneipe hat – aber kein Alibi vorweisen kann. Komplettiert wird die Entourage vom Hausarzt Dr. Braunsperger, einem reifen Galan, der die Baronin Walpurga bereits seit Jahrzehnten eifersüchtig umschwärmt.

„Pater semper incertus“ könnte der Titel des Romans auch lauten. Wer tatsächlich von wem abstammt, entwirrt sich erst im Lauf der Zeit. Ein besonders ungünstiges Licht fällt dabei auf das Welschenbachsche Adelsnest. Mit dieser verarmten und verlotterten Dynastie wäre heute wohl kein Adelsdiplom mehr zu gewinnen. Der alte Baron, der nur noch in der Erinnerung seiner Angehörigen durch das Schloss geistert, hat sich schon vor Jahrzehnten aufgehängt, die Baronin ist ein Windbeutel und Albert, der legitime Stammhalter, ein Versager. Allen zusammen ist es gelungen, das Schloss herunterzuwirtschaften – wenn auch der ermordete und allseits unbeliebte Kammersänger, Säufer und Walpurga-Gatte Numero Zwei das größte Scherflein zum Ruin beigetragen haben mag. Nicht viel besser kommt in „Glücklich, wer vergisst“ das gemeine Volk weg. Im Wirtshaus wird der Stammtisch abwechselnd von übler Nachrede und schwarzbrauner Gesinnung eingenebelt. Der Pfarrer ist ein kleiner Casanova. Und um die Fischereirechte am See wird bis aufs Blut gestritten.

Edith Kneifl, die selbst Analytikerin in Wien ist, hat die vielfältigen Ambivalenzen, die verwandtschaftliche Beziehungen so mit sich bringen, überzeugend eingefangen. So entsteht ein dichtes Motivgeflecht aus Begierden und Abneigungen zwischen (Stief-)Eltern und Kindern, Geschwistern, angeheirateter und tatsächlicher Verwandtschaft. Zwar ist es etwas übertrieben, wenn im Klappentext steht: „So wird der Leser unerbittlich bis zum Showdown getrieben und am Ende atemlos staunend zurückgelassen.“ Aber das Buch hält die Spannung tatsächlich bis zum Schluss und die Vorfreude auf das nächste, dann schon vierte Abenteuer der kühnen Joe Bellini ist groß.

Edith Kneifl Glücklich, wer vergisst
Kriminalroman.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2009.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-85218-585-9.

Rezension vom 09.12.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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