#Anthologie

Glänzendes Graz

Wolfgang Pollanz (Hg.)

// Rezension von Roland Steiner

Rund um das Jahr 2003, als die Mur- zur offiziellen Kulturmetropole Europas aufgestiegen war, erschienen gleich drei Anthologien zur Stadt. Wolfgang Pollanz, Mitbegründer der Kulturzeitschrift „Sterz“, war bereits 1985 als Autor in „Graz von innen“ (Droschl) vertreten, nun editiert er selbst eine Anthologie. Wurde die damalige Innenschau weitgehend von arrivierten Literaten geleistet, sind es in dieser Kompilation zehn Autorinnen und Autoren zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Dreißig, die meisten noch am Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere. Ein Großteil gehört der im Grazer Literaturhaus beheimateten, zentrifugal wirkenden „plattform“ an und war bereits im literarischen Begegnungsband Maruša Kreses (Stadtschreiberin 2005) vertreten. Was also erzählen „Grazliteraten“ heute?

Ein imperialer Geheimbund der Wurmfischer, so die Autorin und Regisseurin Lilly Jäckl, sei in Graz zuhause, wo die Mur die Elbe kreuze. Die Elbe? Aber ja, und außerdem sei sie die südlichste Stadt Amerikas und gleichzeitig die interessanteste Usbekistans. Sechzig Prozent der Einwohner seien Pensionisten und dreißig Prozent katholisch-akademisch geschulte Ausländer. Nonchalant nimmt Jäckl die Jubelbroschüren des Stadtmarketings aufs Korn: Rassismus, Obdachlosigkeit und Armut kenne man hier, wo das Kalbshuhn siedle, nicht, denn das Trinkwasser sorge für Reichtum. Nicht „Pensionopolis“, sondern die „gay town“ thematisiert Sarah Fötschl. Sie lässt zwei Amerikaner in einem vom Hurrikan Katrina bedrohten New Orleans über Auswanderung diskutieren und reißt dabei die Geschichte der Schwulen- und Kunstszene der Siebziger an, als ein Grazer Nazisohn dort lebte. Doch will sich der Konnex zu Graz nicht einstellen. Andrea Stift ist da direkter.

Stift durchdenkt die stadtaktuellen Themen, über die andere AnthologieautorInnen ihrer Meinung nach schreiben werden, um genau diese zu vermeiden: Marienlift (2007 verkaufte Graz03-Installation von Richard Kriesche), die Ordnungswache für Bagatelldelikte, Punks, Bürgermeister Nagl, Feinstaub, Menschenrechtsstadt. Großteils irrt sie… Und gerade das Faktum, seit 2001 erste Menschenrechtsstadt Europas zu sein, hätte angesichts Bettelverbots-Forderungen und (mittlerweile verurteilter) Islamhetze eine Literarisierung verdient.
Sie selbst collagiert ungeschönte Zitate aus lokalen Sexforen zu einer die allgemeine Xenophobie konterkarierenden Textur: Nationalitätenvielfalt? Den Freiern sind Deutschkenntnisse egal.
Um eine andere Art körperlicher Prostitution geht es in Florian Labitschs allzu kurzem Text, in dem sich ein Medikamententester in einem Film, schlussendlich vor dem – dank Stadtwache vom Alkoholkonsum befreiten – Erzherzog-Johann-Denkmal wieder findet.

Ein witziger Kurzfilm könnte auf Alexander Micheuz‘ Geschichte „Agnus Apel“, die Abgründe der Bösartigkeit im Kitsch darlegt, basieren. Der gleichnamige Held stolpert in der Innenstadt über den Spielzeugsarg eines sprechenden Äffchens. Um diesen wiederzufinden, steigen sie in den Kanal hinab, wo die Hasstiraden der Passanten und Politiker zu vernehmen sind. Das Stadtwahrzeichen, der Uhrturm, droht im Zuge einer tektonischen Katastrophe, die auch das Kunsthaus explodieren lässt, in den Liftschacht des Schlossbergs zu kippen.

Diese „Blaue Blase“ benutzt Thomas Talger, Stipendiat des Literaturkurses im Rahmen des Bachmann-Preises, als Folie seiner deftigen Kritik an der gängigen Spektakelkunst. Mit Klischees spielend und ein wenig holzschnittartig erzählt, schickt er einen sich abgebrüht gebenden Künstler durch eine „vernetzte Veranstaltung“ – vorgeblich Materialismus und Patriarchat kritisierende Performancekunst. „Kunstfuzzis“ delektieren sich am vegetarischen Buffet vor den an die Wand genagelten Innereien, als die „Göttin“ genannte Künstlerin das Licht abschalten und Blut regnen lässt. Draußen empfängt ihn wieder die Realität „eines groß gewordenen Dorfes, das gerne Stadt spielt“.

Georg Petz (zuletzt: „Die unstillbare Wut“, Leykam 2007), der ebenfalls die menschenverachtende Rhetorik wahlkämpfender „Saubermacher“ kritisiert, beschreibt die Stadt als „Abbild des Denkens der Menschen (…), die sie bewohnen.“ Zwischen trocken reflexivem und sarkastischem Duktus wechselnd, fokussiert er auf die ambivalente Haltung zum Neuen und Modernen, das hierorts in die Architektur verbannt werde und sonst bloß am Cover alternativer Medien zu erkennen sei.

Das I-Tüpfelchen auf dem von einigen Autoren diskreditierten Grazer Kulturbewusstsein liefert Andreas Unterweger in seinem Kurzdrama „Kulturhauptstadt oder Das Klavier vom Udo Jürgens“: Es besteht aus bloß einem, laut ausgiebiger Regieanweisung zehntausendmal zu wiederholenden Satz zum Thema Klavier.

Der Lyriker und Essayist Christian Teissl zeichnet in leisen Kurznovellen voll grotesker Volten Sehnsüchte und Widerlichkeiten der Stadt. Als Ausbund heutiger Kontrollsucht poltert ein Passkontrolleur durch die Straßenbahn, aus den Domorgelpfeifen rinnt duftendes Schwarz, während die elitären Schrebergärtner mit der U-Bahn ins 1918 abgetrennte Maribor einfahren – Jacques Tati lässt grüßen.

Der einzige formreflexive Text im Band über Graz – einst Sprachexperimentierlabor schlechthin – stammt von Sophie Reyer, die Bettlerinnen ins Blickfeld rückt und Schuldgefühle an sich durchdekliniert: „rilke schenkte der bettlerin eine rose sagst du bescheuert antwortet sie“.

Auch wenn der kurze Band nur wenige ungebremst zustandskritische Texte und keine Lyrik (etwa von Schmitzer oder Poettler) enthält, demonstriert er doch die erzählerische Bandbreite junger Literatur in diesem motorischen Zentrum der österreichischen Literaturproduktion. Keine neue „Grazer Gruppe“ ist hier am Werken, das Polarisierende scheint – wie auch anderswo zu beobachten – zugunsten Interaktion abgedämpft. Obzwar die Stadt über gleich fünf Literaturzeitschriften, ein Theaterlaboratorium und drei Literaturstätten verfügt, wird die lokale Kulturpolitik als defizitär empfunden. Nicht zuletzt deshalb dürfte der Herausgeber dem Buch das sarkastische bis resignative Motto vorangestellt haben: „Special thanks to the town of Graz for being the town of Graz.“

Wolfgang Pollanz (Hg.) Glänzendes Graz
Anthologie.
Wies: edition kürbis, 2008.
91 S.; brosch.
ISBN 978-3-900965-35-8.

Rezension vom 27.01.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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