#Prosa

Gezählte Tage

Julian Schutting

// Rezension von Helmut Sturm

„Blogging: the art of turning one’s own filter on news and the world into something others might want to read, link to, and write about themselves.“ (The Globe and Mail, March 2, 2002) Gewissermaßen hat Julian Schutting mit seinem Band eine exklusive, höchst artifizielle Version so eines Web-Logs in dem alten Medium Buch vorgelegt. Sowohl das Medium als auch sein Content können sich der Konkurrenz Internet gelassen aussetzen.

Die Notizen von fast dreieinhalb Jahren, von April 1997 bis September 2000, liegen uns vor. Der Eintrag vom 21. Juli 98 erklärt, was es mit dem Titel zu tun hat: „eine Amsel möchte von einem Blatt einer unserer Buschrosen trinken, schüttelt sich. also hat der Regen nicht restlos weggewaschen die guten, chemischen Gifte. ginge es mir mit R. nicht sehr gut? was doch noch oft sein wird, notiere und photographiere ich, wie in gezählten Tagen.“

Die Geschichte einer Liebe, einer Idylle, in der von Anfang an der Bruch inkludiert ist. Et in Arcadia ego, sagt der Tod oder „die guten, chemischen Gifte“. Die Gezähltheit der Tage verschiebt auch den Jahrtausendwechsel, Schutting schreibt 1999 plus 1, erst der letzte Eintrag, der der Liebesgeschichte eine Fortsetzung verheißt, macht wieder Hoffnung: „25. September 2000, nach Kärnten retour.“

Schutting ist zuerst ein Augenmensch. Der Großteil der Aufzeichnungen beschäftigt sich mit Naturbeobachtungen, Erlesenem, im Fernsehen Gesehenem, selbst die Texte, denen ein Opern- oder Konzertbesuch zugrunde liegt, enthalten vor allem über das Auge Wahrgenommenes. Schuttings Perspektiven sind dabei vielfältig. Manchmal schaut er wie durch eine Lupe oder ein Mikroskop und entfaltet Details, die im Alltag oft unbeachtet bleiben, dann wieder blickt er aus einer distanzierten Ferne auf die Wirklichkeit.

Viele Schilderungen zeigen sich auf den ersten Blick hell und sicher, erst wenn die Leserin / der Leser länger verweilt, lassen sich auch die bedrohlichen Bruchlinien ausmachen. Obwohl manches an Stifters Sanftes Gesetz erinnert, entspricht die Haltung doch viel mehr einem postmetaphysischen Denken, das allerdings auch die Berührungsängste mit dem Geheimnis bereits überwunden hat.

Tagespolitik ist Schuttings Sache auch nach dem 4. Februar 2000 nicht. Doch sie kommt vor: „Der neue Justizminister verfolgt -“ (wäre es in einem Rechtsstaat nicht vielmehr an ihm -) „verfolgt, wie ich meine gute Ideen!“ (das auch noch!). Häufig dagegen das Auffinden von Stilblüten und verräterischen sprachlichen Äußerungen. So kann er etwa aus der „Hausordnung der Krankenanstalten der Gemeinde Wien“ eine köstliche „Patienten-Typologie“ ableiten.

Julian Schuttings Filter schärft die Sinne für das Falsche ebenso wie für das Schöne. Gezählte Tage ist ein Buch, das eine(n) zwingt, langsam zu lesen. Es ist eine Art Brevier, das man/frau immer wieder für eine gewisse Zeit zur Hand nehmen kann, um nachzuschlagen, was alles in unserer Umgebung verborgen sein mag.

Gezählte Tage.
Salzburg, Wien, Frankfurt: Residenz, 2002.
256 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7017-1305-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 28.01.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.