#Anthologie

Geteilte Erinnerung

Christina Kleiser, Ursula Seeber (Hg.)

// Rezension von Margit Reiter

Die Kategorie Generation hat derzeit Hochkonjunktur, sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in Fachdiskursen über den Nationalsozialismus und das Gedächtnis daran. Diese Kategorie verweist auf (gesellschaftliche und familiäre) Tradierungen des Nationalsozialismus und auf unterschiedliche Zugänge und Verarbeitungen des Themas, die es generationsspezifisch zu beleuchten bzw. zu erklären gilt. Die vorliegende Anthologie Geteilte Erinnerung, herausgegeben von Ursula Seeber und Christina Kleiser, operiert ebenfalls mit dem Generationenbegriff, wie bereits aus dem Untertitel deutlich wird. Die Kategorie Generation erscheint teilweise implizit, da die AutorInnen verschiedenen Generationen angehören, teilweise aber auch explizit, indem sich diese AutorInnen unterschiedlich mit ihren erlebten oder vermittelten Exilerfahrungen einerseits sowie mit ihrer Sozialisation als „Nachgeborene“ in der österreichischen „Tätergesellschaft“ andererseits auseinandersetzen und dabei die eigene Generationszugehörigkeit und die daraus resultierenden Auswirkungen auf das eigene Gedächtnis reflektieren.

Das Buch ist ein Nebenprodukt des Erich Fried Symposiums (2003), versteht sich aber nicht als wissenschaftlicher Tagungsbericht (wiewohl die meisten Beiträge aus dem Fundus der TagungsteilnehmerInnen stammen), sondern als Lese- und Arbeitsbuch, wie Ursula Seeber in ihrem Vorwort richtig stellt. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von eher kurz gehaltenen Statements, Essays und autobiographischen Skizzen, garniert mit einigen Gedichten, die von den Herausgeberinnen zu einem anregendem Kompendium zum Überthema Generation und Gedächtnis zusammengefügt wurden. In den meisten Beiträgen des Bandes geht es um die zweite Generation im Exil, wobei der Generationsbegriff recht weit gefasst ist. So werden beispielsweise auch Jahrgänge zwischen 1920 und 1935 miteinbezogen, die die Vertreibung, wenn auch als Kinder oder Jugendliche, am eigenen Leibe erfahren mussten. Auf jene, die diese Verfolgungserfahrung glücklicherweise nicht machen mussten, ist der zweidimensionale Titel „geteilte Erinnerung“ gemünzt: Darin drückt sich zum einen die Differenz von Erfahrung / Erinnerung aus, zum anderen aber auch die Synergie, da die zweite Generation von den tradierten elterlichen Erinnerungen zutiefst geprägt ist und diese somit teilt.

Auch in den Opferfamilien gab es das Phänomen des Schweigens und der Dialogunfähigkeit zwischen den Generationen, doch vollzog sich dieses Schweigen aus gänzlich anderen Gründen als in Täterfamilien. Schwieg man in Opferfamilien über das Erlebte, weil man über das Grauen nicht sprechen konnte oder die Kinder schonen wollte, so diente das Schweigen der „Täter“ und Bystanders vielmehr dem Verschleiern der eigenen Mitschuld oder zumindest Untätigkeit. Die Konsequenz, die aus diesem Schweigen erfolgte, war hier wie dort in der nachfolgenden Generation: Unwissen, Unverständnis, Ambivalenz.

Elisabeth Frischauf (Jg. 1947) beschreibt anschaulich, dass sie ihre Eltern und deren Verhalten als Kind nicht verstehen konnte, weil sie – aufgrund der Sprachlosigkeit – keine Codes und kein Wissen über das Vergangene hatte. Carol Ascher (Jg. 1941), Tochter des in die USA emigrierten Wiener Psychotherapeuten Paul Bergmann, beschäftigt hingegen die sprachliche Dimension der Thematik: Die deutsche Sprache galt einerseits als „Sprache Hitlers“ und somit als vergiftet, andererseits war sie aber auch die vertraute Sprache der Eltern und verkörperte Nähe und Liebe, z.B. in Form von elterlichen Koseworten. Ähnlich wie das Verhältnis zur Sprache gestaltet sich auch jenes zum Herkunftsland ihrer Eltern. Zwar fühlt sich die zweite Generation ihrem Aufnahmeland stärker verbunden und es fehlt ihr die von Nostalgie geprägte Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, was ihr meist eine kritisch-distanziertere und manchmal auch wohltuend aggressive Haltung dem Herkunftsland gegenüber ermöglicht. Nichtsdestotrotz sind auch sie in Ambivalenzen verstrickt: in die ODER der? Sehnsucht nach Normalität und nach Verwandten wie jedes andere Kind auch, im Netz der tabuisierten Vergangenheit und Fragen nach Zugehörigkeit.

Gerade in Opferfamilien, wo die Fortsetzung der Generationenfolge aufgrund der Beinahe-Auslöschung der Familie so wichtig ist und die Kinder einen großen Stellenwert einnehmen, kann die vermittelte Liebe, Sorge und Erwartung auch zur Last werden. Wie langwierig ein (durchaus notwendiger) Loslösungsprozess aus einem solch engen Familienverbund sein kann, hat Peter Stephan Jungk (Jg. 1952) in seinem autobiographischen Beitrag dargelegt. Für die Nachkommen der nach Österreich zurück gekehrten Vertriebenen stellt sich die Identitätsfrage um nichts weniger schwierig, wie Erica Fischer (Jg. 1943) in ihrem Beitrag deutlich macht. Sie hatte eine gänzliche andere Kindheitserfahrung als ihre nicht-jüdischen österreichischen AltersgenossInnen. Einerseits fühlte sie sich durch ihre Erziehung privilegiert, andererseits aber auch als Außenseiterin und lebt bis heute – als Linke, Jüdin, Österreicherin – in einer fragmentierten und multiplen Identität.

Dass Exilerfahrungen nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt bleiben und somit Vergangenheit sind, steht angesichts der aktuellen weltweiten Migrationsentwicklungen außer Frage. Im vorliegenden Band wird die epochen- und regionenübergreifende Dimension von Exilerfahrungen durch Beiträge von AutorInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und Rumänien (Dzevad Karahasan, Senada Marjanovic, Catalin Dorian Florescu) deutlich. Auch hier zeigen sich unterschiedliche Formen der Be- und Verarbeitung der Erfahrung Exil, von nicht zu tilgenden Gefühlen der Entwurzelung bis hin zum vorsichtigen Optimismus und einer positiven Umdeutung des „Fremdseins“ in einer zusehends globalisierten Welt.

Die Klage über das kollektive Beschweigen der Vergangenheit ist ein fixer Topos jeder „Vergangenheitsbewältigungs“-Rhetorik, vor allem auf Seiten der ehemaligen (Mit)TäterInnen und im vergangenheitspolitischen Kontext Österreichs. Auf der familiären Ebene in der „Tätergesellschaft“ kristallisiert sich diese Klage im Vorwurf an die Eltern, über den Nationalsozialismus und ihren eigenen Anteil daran geschwiegen zu haben und somit für das Unwissen der nachfolgenden Generation verantwortlich zu sein. In der Tat wurde viel und lange geschwiegen über die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Aber – und dieser Einwand scheint mir wichtig – es wurde sehr wohl auch geredet, sowohl in den Familien als auch im öffentlichen Leben. Zu fragen bleibt lediglich, worüber wurde gesprochen, wie wurde geredet und vor allem: Was wurde verschwiegen, ausgeblendet?

Diese Fragen zu beantworten war / ist nicht Anspruch des vorliegenden Bandes, einige Beiträge thematisieren sie aber dennoch ansatzweise. So spricht der Schriftsteller Paulus Hochgatterer (Jg. 1961) in seinem Beitrag von einer „judenfreien Kindheit“ in der österreichischen Provinz und steht mit dieser Erfahrung keineswegs allein da. Denn die Nicht-Thematisierung und Nicht-Präsenz von Juden / Jüdinnen und der Judenvernichtung ist eine kollektivbiographische Erfahrung, die sich zweifellos auf die Vorstellung von Juden in der zweiten Generation ausgewirkt hat. Entweder wirkten die mehr oder weniger offen tradierten antisemitischen Stereotype auch in der nachfolgenden Generation fort oder aber sie wurden philosemitisch gewendet, wie im Falle Hochgatterers, für den das Judentum aufgrund fragmentarischer Kindheitserinnerungen zum Synonym schlechthin für Künstlertum geworden war.

Wenn in den Familien und im sozialen Umfeld gar nicht kommuniziert wird, so sind Bücher oft die einzigen „Korrektive“ des familiären und gesellschaftlichen Schweigens und dienen als Auskunftsbüro bzw. als Ersatzgesprächspartner im nicht stattfindenden intergenerationellen Dialog. Wie der Schriftsteller Alois Hotschnig (Jg. 1959) in seinem lesenswerten Beitrag aufzeigt, üb(t)en auf ihn (autobiographische) Texte über den Holocaust, wie beispielsweise von Rudolf Höss, dem Auschwitz-Kommandanten, eine gewisse Sogwirkung aus. Sie lieferten ihm Einblick in das unfassbare Grauen des Geschehenens und in die (banale) Monströsität der Täter. Damit diese monströsen Taten jedoch nicht nur Schreckensbilder außerhalb des Verstehens bleiben, bedarf es eines Bezugs zu sich selbst. Für Hotschnig war es z.B. eine Szene aus Claude Lanzmanns „Shoah“-Film, wo ein „ganz gewöhnlicher“ Kellner sich als KZ-Täter entpuppt und den Autor in seiner Gewöhnlichkeit, seinem Aussehen und Habitus, an dessen eigene Elterngeneration erinnert. Damit bricht die Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwärtigkeit des nachgeborenen Autors ein und kann nicht länger auf Distanz gehalten werden.

Dieser kursorische Streifzug konzentrierte sich auf die zweite Generation im engeren Sinne und soll die Vielfalt der im Band versammelten Beiträge illustrieren. Manche der (hier nicht angeführten) Texte sind gar zu flüchtig und unpersönlich geraten. Sie eröffnen keine neue Perspektiven. Andere jedoch berühren durch ihre Nach-Denklichkeit im besten Sinne, wo persönliche Erinnerung und kritische Reflexion ein produktives Bündnis eingehen. Interessanterweise kommen diese Beiträge vor allem von der Nachfolgegeneration auf Seiten der „(Mit)Täter“, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass diese Generation erst allmählich beginnt, sich den NS-Involvierungen der eigenen Elterngeneration zu stellen (wohingegen Exil und Vertreibung und deren Auswirkungen auf nachfolgende Generationen bereits vielerorts thematisiert wurden).

Auseinandersetzungen der „Nachgeborenen“ mit den familiären NS-Verstrickungen jenseits moralisierender und selbstgerechter Anklagen, wo auch die persönlichen Prägungen und Defizite selbstkritisch miteinbezogen werden, wie sie hier anklingen, sind längst fällig. Das vorliegende Buch ist als anregende Lektüre und Denkanstoß über Erinnerungstopographien und Kindheitsmuster in der zweiten Generation diesseits und jenseits der Opfer-Tätergrenzen zu verstehen. Eine weiterführende vergleichende Perspektive und Analyse erscheint sehr wünschenswert.

Christina Kleiser, Ursula Seeber (Hg.) Geteilte Erinnerung
Generationen des Exils.
Wien: Czernin, 2003.
191 S.; brosch.
ISBN 3-7076-0172-2.

Rezension vom 09.03.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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