#Prosa

Geschlossene Gesellschaft

Verena Stauffer

// Rezension von Daniela Chana

Das Tagebuch als literarische Gattung erfordert einigen Mut. Wenn eine Autorin sich dazu entschließt, selbst als Figur auf der Bühne zu erscheinen, muss sie ihr Handwerk bestens verstehen, um niemals ins Triviale abzurutschen, ihre Aufzeichnungen müssen stilistisch und inhaltlich einen Mehrwert für das Publikum bieten. Die vielfach ausgezeichnete und nominierte Autorin Verena Stauffer zeigt in Geschlossene Gesellschaft, wie das Wagnis gelingen kann.

Bereits während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 hatte das Literaturhaus Graz die sogenannten „Corona-Tagebücher“ ins Leben gerufen. Gegen Honorar lieferten ausgewählte österreichische Autorinnen und Autoren wöchentlich ihre Aufzeichnungen über das Leben und Schreiben in der Pandemie ab. Die regelmäßigen Veröffentlichungen boten nicht nur einen Einblick in die Situation der Kulturschaffenden, sondern stellten zudem eine Kompensation für ausgefallene Auftrittshonorare dar. Als das Projekt im November 2020 fortgesetzt wurde, war auch Verena Stauffer als Tagebuchschreiberin beauftragt. Ihre Aufzeichnungen aus insgesamt vier Monaten des Lockdowns in Wien sind nun bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen.

Doch wie real, wie persönlich kann ein Tagebuch sein, wenn es zugleich ein literarisches Werk ist? Müssen wir vermuten, dass eine Fiktionalisierung stattgefunden hat, gibt es eine Trennung zwischen der Ich-Figur und der Autorin? Es lässt sich leicht überprüfen, dass die biografischen Fakten der Protagonistin von „Geschlossene Gesellschaft“, die wir aus dem Text erfahren, mit der Autorin übereinstimmen: Wir lesen die Aufzeichnungen einer österreichischen Schriftstellerin namens Verena, die vorübergehend in Berlin gelebt hat, im Frühjahr 2020 nach einem längeren Aufenthalt in Russland aufgrund der Pandemie nach Wien zurückgekehrt ist und im März 2021 in die USA aufbrechen wird. Wir begleiten sie von November bis Februar dabei, wie sie den zweiten Lockdown erlebt, innerhalb Wiens in eine neue Wohnung umzieht, liest, schreibt, nachdenkt und spazieren geht. Sie hat Kinder, eine Hündin, einen überwiegend abwesenden Freund und mindestens zwei intensive Chat-Kontakte.

Trotz der offenbaren Identität zwischen Autorin und Erzählerin wird beim Lesen schnell deutlich, dass es sich hier nicht um ein ganz gewöhnliches Tagebuch handelt, sondern durchaus um einen elaborierten Text, der für ein Publikum geschrieben wurde. Stauffers Sprache ist makellos bis ins kleinste Detail. Tatsächlich kann „Geschlossene Gesellschaft“ als Leistungsschau der Autorin gelten, da Stauffer darin Lyrik und Prosa, Alltagsbeobachtungen, genaue Analysen, Traumaufzeichnungen und fantastische Elemente miteinander verbindet.

Ihre Überlegungen gehen über bloße Selbstreflexion weit hinaus. So führt etwa die erzwungene Einsamkeit im Lockdown zu einem Nachdenken über Begegnungen und Berührungen. Der Bezug zu Jean-Paul Sartre im Titel, der eine Idee von Hölle und endloser Gefangenschaft evoziert, ist dabei bestimmt kein Zufall. Die tagebuchschreibende Autorin vermisst den persönlichen Kontakt, das Aufeinandertreffen mit Fremden und landet schließlich bei einer der treffendsten Definitionen von Liebe, die es vielleicht je gab: „[…] ich glaube, Erfüllung liegt eher dort, wo zwischen zwei sich haltenden Händen eine Wunde heilt, jahrelang gebildetes Eis der Hochgebirgswälder und Klüfte wie im warmen Westwind langsam schmilzt, in Quellen zerfließt und sprudelt.“

Es entspricht der Eigenheit der Tagebuchform, dass der Plot eher sparsam ist. Die Spannung besteht allein in der Bewältigung des Alltags, die Heldin muss kein „Abenteuer“ bestehen, sie muss nicht die große Liebe finden, keinen Kriminalfall lösen oder ähnliches. Beobachtungen und Reflexionen müssen in ihrem Gehalt ausreichen, um das Fehlen einer Romanhandlung zu kompensieren. Dies gelingt der Autorin vor allem in jenen Passagen exzellent, die von ihren Spaziergängen durch Wien erzählen. „Und ich lebe in Wien, wie ich nie zuvor in Wien gelebt habe“, bemerkt die Vielgereiste an einer Stelle. Ihre Beschreibungen der Stadt und der darin lebenden Menschen sind ebenso präzise wie einfühlsam: Die Obdachlosen am Straßenrand konfrontieren sie mit ihren eigenen Existenzängsten; die Feierwilligen, die am Marktstand heimlich Schnaps in ihren Kinderpunsch schütten, um das Alkoholverbot zu umgehen, rühren sie; die spontanen Zusammenkünfte Fremder bei den „To Go“-Ausschanktischen der Cafés schenken ihr einen Moment zwischenmenschlicher Wärme. Es sind diese Beschreibungen des Alltags im Ausnahmezustand, die dieses Buch zu einem historischen Dokument machen.

Zwischendurch lockert gekonnter Slapstick die Atmosphäre auf, etwa wenn die Lieferung einer Matratze wiederholt fehlschlägt und schließlich in ein kleines Chaos mündet. Nachdem die neue Wohnung endlich eingerichtet ist, sieht sich die Tagebuchschreiberin einer inneren Leere gegenüber und stellt fest: „Es hat schon lange niemand mehr geklingelt, ich muss endlich einmal wieder etwas bestellen.“

Die Personen und Plätze, die Stauffer beschreibt, sind real, dennoch wirkt es nicht so, als ob die Autorin zu viel über sich selbst oder ihre Umgebung verriete. Nur eine einzige Stelle gegen Ende scheint nicht so recht in den Kontext des Buches zu passen, als die Tagebuchschreiberin sich an ein dramatisches Ereignis aus ihrer Jugend erinnert, welches mit dem Alltag in der Pandemie nichts zu tun hat. Dies ist die einzige Passage, die eventuell entfallen hätte können.

Dass ausgerechnet Verena Stauffer eine solch persönliche Form des Schreibens gewählt hat, überrascht besonders, da sie in ihrer Lyrik bisher eher für das Gegenteil bekannt war. Stauffers Gedichtband „Ousia“, der 2020 auf der Shortlist zum Österreichischen Buchpreis stand, zeichnete sich gerade durch eine gewisse Nüchternheit, einen intellektuellen und philosophischen Zugang zur Welt in dichterischer Form aus. Umso interessanter und spannender ist es, die Autorin nun von einer anderen Seite kennenzulernen. Stauffers souveräner Stil macht das Lesen zu einem ästhetischen Vergnügen.

Verena Stauffer Geschlossene Gesellschaft
Tagebuch.
Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2021.
160 S.; geb.
ISBN 9783627002923.

Rezension vom 01.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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