In den letzten Jahrzehnten belebte das neu erwachte Interesse an „Zeichen“ und „Zeichensystemen“ auch das Interesse für die Entstehung der Schriftzeichen – dieser Entwicklung verdanken wir zum Beispiel die späte Übersetzung von Alfred Kallirs 1961 in London erschienener Studie „Sign und Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets“, die der Berliner Kulturverlag Kadmos 2002 vorlegte. Die Ursprünge der Lesekultur haben auch in Grieps Buch ihren Stellenwert, und er geht dabei von dem heute üblichen breiten Verständnis des „Lesens“ aus. So beginnt der Band mit Abschnitten über das „Lesen des Sternenhimmels“ – der auch die mittelamerikanischen Hochkulturen einbezieht, die in der Folge allerdings wieder aus dem Blick geraten – und das „Lesen von Körpersymptomen“ als Ursprung der Medizin.
Während diese und die folgenden kurzen Kapitel über die Erfindung der Schrift und die Entwicklung des Alphabets eher den Charakter eines gut lesbaren Überblicks haben, sind die – auch umfangreichsten – Abschnitte über Schreiben und Lesen in der Antike spannender. Griep bringt hier eine Fülle an literarischen Zeugnissen der griechischen und römischen Dichtung ein, die zum Teil auch in ausführlichen Zitaten wiedergegeben werden. Aus den bekannten Debatten über das „lebendige“ gesprochene Wort versus „tote“ Buchstaben oder der Untersuchung, welche Texte und Autoren zu welchen Zeiten ein Skandalon waren, entstehen auch kulturhistorische Skizzen zu den verschiedenen Epochen. So erregten Ovids „Amores“ keineswegs wegen des erotischen Charakters der Liebesgesänge an Corinna Ärgernis, sondern weil die Liebesbegegnungen hier auch bei hellem Tageslicht stattfanden und die Geliebte dabei als völlig nackt beschrieben wurde. Selbst Prostituierte ließen sich nie völlig entkleiden, wie Malereien aus pompejanischen Bordellen zeigen.
Auch wenn man über die materiellen Bedingungen des Literaturbetriebs in Athen oder im alten Rom gerne mehr erfahren hätte, entwirft Griep doch in Umrissen, wie man sich den damaligen „Buchmarkt“ vorzustellen hat. In der römischen Kaiserzeit etwa betrugen die durchschnittlichen Auflagen bereits 1000 Exemplare und der griechische Geograph und Historiker Strabon (ca 64 vuZ bis 20 nuZ) beschwerte sich ausführlich über das durchgängig schlechte Lektorat der Editoren.
Der Verfall der antiken Lesekultur auf dem Weg ins „finstere Mittelalter“ ist auch die Geschichte eines Medienwechsels, der an Radikalität der Erfindung des Buchdrucks um nichts nachsteht. Ende des 4. Jahrhunderts setzte sich allmählich die neue Technologie des Kodex gegen die traditionelle Buchrolle durch, und man begann, systematisch den Buchbestand von Papyrusrollen auf Pergamentkodizes umzurüsten. Es wurde ausgewählt, was „überspielt“ werden sollte und was nicht, und der dabei entstandene „Datenverlust“ ist enorm. „Als die kaiserliche Bibliothek von Konstantinopel 473 einem Brand zum Opfer fiel, umfasste sie 120 000 Bände. Es wurde eine neue erbaut, die jedoch nur noch 36 400 Bücher zu ihrem Bestand zählte“ (S. 175), wobei eine Vielzahl dieser auf ein Viertel geschrumpften Bände nicht der antiken, sondern schon der neuen christlich-theologischen Tradition angehörten. Solche medienhistorische Parallelen zu ziehen erlaubt sich der Autor kaum; der sachliche, knappe Stil macht das Buch vielleicht etwas spröde, ist einer überblicksartigen Zusammenschau auf das Thema aber durchaus angemessen.