#Lyrik

Gesammelte Werke

Gerhard Rühm

// Rezension von Florian Neuner

Poesie der Grenzüberschreitung –
Im Parthas Verlag erscheinen die Gesammelten Werke von Gerhard Rühm.

An der deutschsprachigen Literatur, so scheint es, ist ein entscheidender Modernisierungsschub vorbeigegangen. Während ein bildender Künstler heute schon ein ausgebufftes Konzept aufbieten müßte, um mit realistischen Aquarellen ernstgenommen zu werden, und auch in der Musik niemand an den Avantgarden des 20. Jahrhunderts vorbeikommt, scheint genau das in der Literatur möglich. Hier dominieren noch immer die ‚ollen Kamellen‘ aus dem 19. Jahrhundert, Roman und Gedicht.

Dabei sah es einmal so aus, als könnte auch das deutschsprachige Experiment im Literaturbetrieb ankommen. Der 1967 von Gerhard Rühm im Rowohlt Verlag herausgegebene Band Die Wiener Gruppe bedeutete die Kanonisierung der literarischen Neoavantgarde. Im selben Jahr erschienen auch Franz Mons Lesebuch und Helmut Heißenbüttels Textbuch 6, was Reinhard Priessnitz damals veranlaßte, von einer „hebung des allgemeinen, ohnedies ziemlich ramponierten nimbus sogenannter literarisch ausgerichteter verlage“ zu sprechen, die nun mit zehnjähriger Verspätung erfolge.

Vor allem der Rowohlt Verlag, der Die Wiener Gruppe verlegt hatte, war der Avantgarde dann viele Jahre eine Heimat. Dort erschienen Bücher von Friedrich Achleitner, Oswald Wiener, Friederike Mayröcker, Elfriede Czurda. Auf breiter Front durchsetzen sollte sich dann freilich die Literatur der Gruppe 47, die nach dem Krieg für einen politischen Neubeginn stand, ohne jedoch ästhetisch Neues zu bieten, was ihnen von den großen Feuilletons offenbar bis heute gedankt wird. Es ist deshalb hoch an der Zeit, sich an die Potentiale einer Literatur zu erinnern, die diese Selbstbeschränkung nicht mitmacht und die im emphatischen Sinne experimentell geblieben ist.

Gerhard Rühm ist heute kein Rowohlt-Autor mehr. Seine Gesammelten Werke erscheinen in einem Verlag, der nicht einmal auf ein besonderes literarisches Profil verweisen kann. Das mag ein Schaden sein für die Resonanz der voluminösen gelben Bände, der Sache schadet es nicht. Denn die Rühm-Gesamtausgabe ist in jeder Hinsicht hervorragend gemacht. Der Literaturwissenschaftler Michael Fisch hat mit der Lese- und Studienausgabe einen überzeugenden Weg zwischen Leserfreundlichkeit und editorischer Sorgfalt gefunden für ein Werk, das keineswegs abgeschlossen ist. Es handelt sich nicht um die Retrospektive einer historischen, neoavantgardistische Position. Der 78-jährige Rühm ist bis heute ungebrochen experimentierfreudig und schlägt ständig neue Funken aus immer wieder neuen Versuchsanordnungen. Im Zuge der Vorbereitung der Parthas-Bände hat er einige Texte, die Jahrzehnte lang unvollendet liegengeblieben waren, doch noch fertiggeschrieben.

Wenn es einen Künstler gibt, für den das Überschreiten der Grenzen zwischen den Gattungen und den Künsten zentral ist, dann ist das zweifellos Rühm – der ausgebildete Musiker, der in den fünfziger Jahren mit Lautgedichten und konkreter Poesie begann und später an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg unterrichtete. „beim gegenwärtigen stand der gesamtkünstlerischen entwicklung ist es illusorisch zu fragen, ob es sich noch um dichtung oder schon musik, um musik oder graphik, um plastik oder theatralische aktion handelt“ beschreibt Rühm seine intermedial angelegte Ästhetik. „die produktionen lassen sich nicht mehr in gesonderte disziplinen eingrenzen, die produzenten nicht mehr auf einen material-, ausdrucksbereich festlegen.“ Bereits die ersten vier Bände der Gesamtausgabe ergeben ein Kraft- und Experimentierfeld, dessen Ideenreichtum das trübe Einerlei der in den großen Feuilletons gefeierten Literatur überstrahlt und vermeintlich Aktuelles sehr alt aussehen läßt.

Zuletzt erschienen sind 700 Seiten mit „visueller musik“. Visuelle Musik? Es handelt sich dabei nicht um graphische Partituren des Komponisten Gerhard Rühm, sondern um Arbeiten, in denen sich die visuellen Aspekte musikalischer Aufzeichnungssyteme zu autonomen Bildwerken verselbständigen. Erstaunlich, wie viele Facetten er dieser Versuchsanordnung in den letzten 30 Jahren abgewonnen hat! In der „lesemusik“ zeichnet Rühm auf Notenpapier, seine „liederbilder“ sind Collagen, die fragmentierten Notentext mit Fotos konfrontieren – überraschend, witzig, manchmal makaber, wenn etwa dem Bild eines ausgemergelten, auf allen vieren kriechenden schwarzen Jungen die Liedzeile „Bist doch ein ehrlos erbärmlicher Wicht, ein deutsches Mädchen küßt dich nicht“ gegenübergestellt wird.

Enorm ist auch das Spektrum der in dem Band mit „visueller poesie“ versammelten Arbeiten – von „schreibmaschinenideogrammen“ aus den fünfziger Jahren bis hin zu „automatischen schriftzeichnungen“ und „adaptionen“, wie Rühm seine „literarischen pendants“ zu Ready mades nennt. In den „kritischen kalligraphien“ von 1985 reagiert der Zeitungsleser Rühm auf Nachrichten mit expressivem Strich oder auch mit Textkommentaren – mal wütend, mal fassungslos wie auf die Meldung „SS-Treffen endete ohne Zwischenfälle“: „1985!!! / 1985!!! / OHNE ZWISCHENFÄLLE“.

Eröffnet wurde die Werkausgabe 2005 mit 1200 Seiten Gedichten. Wir finden dort konkrete Poesie aus der Zeit der Wiener Gruppe – ein Gebiet, auf dem Rühm eine Wendigkeit und einen Phantasiereichtum entwickelt, der weit über den oft platten Schematismus anderer Konkreter hinausgeht. Wir finden aber auch „vokabulare“, „wortspiele“ und „litaneien“, in denen sich Experimentierlust und Spieltrieb auf immer wieder überraschende Weise verbinden, etwa in dem „versepos“ „im wirtshaus“ als Vierzeiler: „sitz am tisch / kommt ein fisch / ist nicht frisch / weg ihn wisch“. Dazu kommen Paraphrasen und Nachdichtungen, Montagen, Anagramme, Chansons, selbst Haikus und eine mit „coole poesie“ überschriebene Abteilung, in der es Rühm um die „literarische verwertung von trivialem, schockierendem, minderwertigem“ geht. Auch die „vermischten gedichte“ bestechen durch Formenvielfalt. Ein „hamburger zahlengedicht“ mit dem Titel „bestattungen“ geht schlicht so: „5 00 92 11“, während das mit den Zeilen „die tulpe scheisst auf den rasen / das veilchen furzt in die hand des gärtners / das vergissmeinnicht kotzt ins seidenpapier“ beginnende „blumenstück“ einst, in einem Schulbuch abgedruckt, gut war für einen Skandal.

Wer nicht glauben mag, daß Gedichtbände aufregende Lektüren sein können, der hat in dem lyrischen Lebenswerk Gerhard Rühms den Beweis. Und multimedial, wie es nun einmal angelegt ist, sprengt dieses Werk natürlich das Medium Buch. Für den Band mit „auditiver poesie“ sind beiliegende CDs angekündigt, und wer Rühms Arbeit wirklich in allen Facetten fassen will, der muß sich ohnehin seine Musik anhören, seine Filme ansehen und seine originalgraphischen Arbeiten. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß am Neuen Museum Weserburg in Bremen gleichzeitig eine DVD-Edition erarbeitet wird, die dem multimedialen Charakter dieses Werks gerecht zu werden versucht. Sie trägt den Titel Gerhard Rühm. Eine Begegnung der besonderen Art.

Die Gesammelten Werke von Gerhard Rühm erscheinen im Berliner Parthas Verlag. Die zweibändigen „gedichte“ (gesammelte werke 1) kosten 98 Euro, die „visuelle poesie“ (gesammelte werke 2.1) und die „visuelle musik“ (gesammelte werke 2.2) jeweils 58 Euro.

Gesammelte Werke. Band 1.1 & 1.2.
Gedichte.
Berlin: Parthas Verlag, 2005.
1,306 Seiten, gebunden.
ISBN 3-936324-41-7.

Gesammelte Werke. Band 2.1.
visuelle poesie.
Berlin: Parthas Verlag, 2006.
828 Seiten, gebunden.
ISBN 3-936324-42-5.

Gesammelte Werke. Band 2.2.
visuelle musik.
Berlin: Parthas Verlag, 2006.
736 Seiten, gebunden.
ISBN 3-936324-51-4.

Rezension vom 19.11.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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