#Prosa

Geröll

Thomas Ballhausen

// Rezension von Julia Danielczyk

Auf einem Haufen Erinnerungsmaterial sitzen wir, zugeschüttet mit den Mythen der abendländischen Kulturgeschichte, die jede Alltagswahrnehmung in einen bedeutungsschweren Kontext stellen: Thomas Ballhausen, „geb. 1975, lebt in Wien“ (wie schon das Cover erzählt) hat in seinem Band Geröll die Schichten des kollektiven Gedächtnisses durchmischt und neu geordnet. Kein Kieselstein bleibt mehr am alten, kein (Schutt)Haufen wird durch die Leistung des Vergessens geräumt. Unliebsame Erinnerungen drängen an die Oberfläche und markieren neue Wahrnehmungsebenen. Ballhausen kratzt an den vielfältigen Schichten des Gedächtnisses, am individuellen des Ich-Erzählers, am kollektiven, am literarischen.

Ballhausen übersetzt sein Material in poetische Bilder und strukturiert Beobachtungs- und Gedächtnisleistungen nach bewährten Systemen: Das Alphabet bietet sich als Mikroform an. Dementsprechend versammelt der Band ein „Abecedarium.“ In „26 Lektionen“ durchmischt er verborgene, vergessene, alltägliche, banale, praktikable, mythologische Zugänge zur Literatur. Vom benutzerdefinierten B über das dekonstruktivistische D, das erinnyenhafte E, das Indiz I, über Pathos, Teichoskopie bis hin zum „Z wie Zeugma, Zitadelle, Zitat. Z wie Z“ schreibt sich das erzählende Ich durch die Schichten detaillierter Lebensbeobachtungen. Kurzgeschichten „über Unmöglichkeiten und Möglichkeiten des Lebens, die Liebe als Folterinstrument und über das Anschreiben gegen die Realität“ machen aus dem Sprach-Geröll zusammenhängende Texthaufen, intertextuelle Bezüge (Thomas Hardy, Sueton, John Milton, Friederike Mayröcker) funktionieren wie Links in andere Welten und objektivieren die Innenansichten dieses Momentaufnahmen-Sammlers. Als würde er – sich selbst fremd – mit einer Kamera der Sprachbilder durch die Welt streifen und Ausschnitte der Wirklichkeit sammeln.

In der Erweichung unserer Seele ist die Innenwelt wohl doch am stärksten nach außen gekehrt und so nützt Ballhausen die Zugänglichkeit des verliebten und oft verletzten Ich zur Analyse der Lebenssplitter. An der Paarbeziehung arbeitet er die Innenansichten der Protagonisten ab. Die Liebe, oder meist die Angst vor dem Liebesentzug, der bereits erfolgte Verlust oder die Einsamkeit sind der irrationale Motor, der die Ballhaus’schen Figuren verbindet. Er vernetzt ihre Gefühle in geschichtete Buchstaben-Reihen zu Geschichten aus Sinnüberlagerungen, die dem Ich keine Deutung mehr erlauben „ständig neue Verzerrungen vorgaukeln“. In Versalien gedruckte Worte lesen sich wie geheime Codes oder ein Metatext, der (im richtigen oder falschen ? Winkel gelesen) wertvolles Verborgenes sichtbar macht. „UND IM GLEICHGEWICHT ERWÄGEN RICHTEN SINN“ – auch wenn sie keinen eindeutigen Sinn ergeben, gewinnen die hervorgehobenen Wörter neue Bedeutungszusammenhänge, heben scheinbar Bruchteile der Wahrnehmung aus der zweidimensionalen Leseoberfläche. Wiederholungen markieren die „gedachten Sätze“, die immer wiederkehren und sich zu einer alten-neuen (durchaus oft komisch-skurrilen) Textur verweben. In seinen Kurzgeschichten kramt Ballhausen im Repertoire seines inneren Poetiknetzes.
In „wühlen; eine Nachmittagsbeschäftigung“ gräbt der Protagonist anhand eines Fotoalbums seine Erinnerungen hervor – ein Archäologe der Literatur – und durchforstet seinen „Speicherplatz Gehirn“, um im Inneren seine Vergangenheit neu zusammenzusetzen.

Geröll ist eine erstaunliche Materialmasse an feinen Wahrnehmungen in Dichtung verarbeitet, ein Kleinod genauer Beobachtung und präziser Wiedergabe.

Thomas Ballhausen Geröll
Erzählungen, Kurzgeschichten, Prosaskizzen.
Innsbruck, Bozen, Wien: Skarabaeus, 2005.
172 S.; brosch.
ISBN 3-7082-3194-5.

Rezension vom 24.05.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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