#Sachbuch

Georg Trakl

Sieglinde Klettenhammer, Johann Georg Lughofer (Hg.)

// Rezension von Eleonore De Felip

Aus Anlass seines 100. Todestages (1914–2014) war der 4. Internationale Lyriktag der Germanistik Ljubljana Georg Trakl gewidmet. Nach Ernst Jandl, Erich Fried und Ilse Aichinger stand ein weiterer österreichischer Lyriker im Mittelpunkt der jährlich stattfindenden Lyriktage in Ljubljana. Der Untertitel des Bandes verrät das anspruchsvolle Programm: Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Die besondere Umsicht der Herausgeberin Sieglinde Klettenhammer und des Herausgebers Johann Georg Lughofer im Umgang mit Trakls ‚dunklen‘ Texten verdient höchste Anerkennung. Auf exemplarische Weise führen sie vor, wie der Vielfalt der möglichen literaturwissenschaftlichen und didaktischen Zugänge gebührend Tribut gezollt werden kann. Ein besonderer Reiz des Bandes liegt in seiner Offenheit kreativen Rezeptionsformen gegenüber: so finden sich neben wissenschaftlichen Analysen, auch unorthodoxe Fortschreibungen von Trakl-Motiven durch zwei junge Autoren.

 

Ein Sammelband zu einem Autor wie Trakl stellt Herausgeberinnen und Herausgeber vor besondere Schwierigkeiten. Wie kann auf engem Raum der Fülle der wissenschaftlichen Analysen Rechnung getragen werden, ohne sich in Rekapitulationen zu verlieren? Wie kann der Band zugleich ein Forum für wissenschaftliche Neuperspektivierungen und für neue literarische Stimmen werden, ohne zu einem aussageschwachen Potpourri zu werden? Sieglinde Klettenhammer und Johann Georg Lughofer ist dieser Balanceakt glänzend gelungen: Nicht Trakls rätselhafte Texte zu erklären, sondern ihre Rätselhaftigkeit zu beschreiben und permutierend zu ‚feiern‘, ist der Grundtenor aller Beiträge, sodass bei aller Vielfalt ein kongruenter Band entstand.

Das Spektrum der Zugänge reicht vom historischen Kommentar bis zu äußerst genauen Textanalysen; von didaktischen Aufarbeitungen bis zu (liebevoll) parodierenden Fortschreibungen; von biographisch-autorzentrierten Annäherungen (Weichselbaum) und rezeptionsästhetisch orientierten Beiträgen (Šlibar) über mutige Versuche einer kohärenzstiftenden Lektüre (Csúri) bis hin zu Neuperspektivierugen durch aktuell diskutierte Ansätze wie die Cognitive Poetics (Esselborn). So unterschiedlich die Zugänge auch sind, plausibel sind sie alle. Sie zeigen, dass dank neuer Erkenntnisse wie beispielsweise dem Wissen um die Textgenese (Morgenroth) neue Facetten eines ‚dunklen‘ Opus sichtbar werden, das ‚Mysterium‘ Trakl jedoch bleibt.

Für die einzelnen Beiträge wie für den Band insgesamt gilt: je intensiver der Dialog mit dem Text, umso mehr wird er zum Spiegel der Betrachterin und des Betrachters. Hinter literaturwissenschaftlicher Qualität verbirgt sich immer ein ‚erotischer Blick‘. Gelungene wissenschaftliche Lektüren (und um solche handelt es sich hier) verraten das ‚Auge‘ der Betrachterin und des Betrachters und sind also im besten Sinne subjektiv. Literaturwissenschaftliche Qualität zeigt sich gerade dort, wo die analytische Subjektivität zugelassen und mitreflektiert wird. Der Band lebt von den teils harmonischen teils dissonanten einzelnen ‚Tönen‘ der Beiträge. Er ist ein Beispiel für editorische Integrationsleistung. Die ‚Handschrift‘ der Herausgeberin und des Herausgebers (ihre editorische Subjektivität) zeigt sich ihrerseits in der Offenheit des Gesamtkonzepts. Dass sich eine wissenschaftliche Reihe in Richtung kreativer Aneignung öffnet (durch Studierende wie durch junge Autoren), ist noch immer ungewöhnlich.

Den Reigen eröffnet Neva Šlibars rezeptionsästhetisch orientierte ‚Erzählung‘. In ihrem fesselnd geschriebenen Beitrag stellt sie vier relativ unbekannte Beispiele von Trakl-Rezeptionen vor: eine frühe akademische Hausarbeit von Annemarie Schwarzenbach, je einen poetologischen Text von Ilse Aichinger und Franz Fühmann sowie einen traurig-wütend-satirischen ‚Nachruf‘ auf Trakl von Thomas Bernhard. Allen vier Texten gemeinsam ist das ‚Betroffen-Sein‘ der Autorinnen und Autoren. Am Grad, betroffen zu machen, lasse sich die Wirkung von Gedichten bemessen, sagt Franz Fühmann. Interessant und aufschlussreich sind auch Šlibars Fußnoten, insbesondere jene zur Rezeption der deutschsprachigen Literatur in Slowenien vor und nach dem Ersten Weltkrieg.

Šlibar erwähnt Franz Fühmanns Gedanken zur Bedeutung der Wirkung des Gedichts (seiner „Gewalt“) auf den Körper. Daran schließt sich stimmig Hans Esselborns Aufsatz an, in welchem das aus den Cognitive Poetics stammende Konzept des „embodiment“ zur Grundlage der Trakl-Lektüre gemacht wird. Mit ihm erklärt Esselborn nicht die Semantik der Trakl- Gedichte, wohl aber die Gesetzmäßigkeit ihrer anhaltenden Faszinationskraft: die im Gedicht entworfenen Raum-Körper-Konstruktionen lösen im Gehirn der Leserin und des Lesers unbewusste, psycho- und neurolinguistisch erklärbare ‚Resonanzen‘ aus.

Claas Morgenroth weist zu Recht auf die zentrale Bedeutung der Editionsphilologie hin. Am Beispiel der Textgenese von Der Wanderer zeigt er, dass das Gedicht als prozessuales Gebilde zu verstehen sei, das mehrere Phasen einer tiefgreifenden Überarbeitung durchlief. Seine ‚Bedeutung‘ (‚Sinn‘) sei zu keinem Zeitpunkt der Entstehung ‚fixiert‘ gewesen, sondern habe bis zur letzten Fassung wandelnde Sinn-Stufen durchlaufen. Durch das Aufzeigen der intertextuellen Bezüge (Verlaine, Goethe) macht Morgenroth deutlich, dass Trakls Gedicht aus einem intensiven Dialog mit literarischen Vorbildern entstand, weshalb auch ‚Bedeutungen‘ nur in ihrer kontrapunktischen Bewegung fassbar seien.

Auch Franz Eybl veranschaulicht die Rolle der intertextuellen Referenzbeziehungen in Trakls Schreiben. So zeigt ein Vergleich des Gedichts Die drei Teiche von Hellbrunn mit Goethes Gedicht Auf dem See, wie sich Trakl in die literarische Tradition bewusst einschreibt und sich zulgeich der Blick auf die umgebende Natur radikal verändert. Bei Trakl ist die Natur keine realistische Kulisse mehr, in der sich das lyrische Subjekt spiegelt, sondern ’nur‘ noch der Impuls zu einem Wort, zur Schaffung von poetischen Innenräumen.

Herta Luise Ott weist auf die ‚Musikalität‘ von Trakls Sprache hin, insbesondere auf die nicht-aufgelösten Dissonanzen der späten Phase (dargestellt am Motiv der „Ratten“). Damit rücke Trakls Poesie in die Nähe von Schönbergs ‚(ver-)störender‘ Musik.

Primus Heinz-Kuchers reflektiert die Synästhesien in Trakls ambivalenten Farb- und Bildkompositionen. Seine Lektüre sei, so Kucher, ein Versuch, der „Verführung“ durch Trakls hypnotische Sprache durch eine rationale Analyse zu widerstehen. Der poetischen ‚Verrätselung‘ begegnet er mit einer ‚Enträtselung‘ durch die Beschreibung des Schreibverfahrens. Kuchers Analyse macht deutlich, dass die ‚Rätselhaftigkeit‘ der Trakl-Texte das Ergebnis einer äußerst konzentrierten Spracharbeit ist. Ihre hypnotische Wirkung verdanke sich meisterlichem Können. Kucher positioniert die „chromatische Radikalisierung“ der Lyrik Trakls im Kontext der Moderne, indem er auf parallele Strukturmerkmale und Verfahrensweise in der Malerei des Expressionismus hinweist. Doch auch er betont, dass sich Trakls ‚Radikalität‘ im Zuge einer intensiven Rezeption sowohl der ‚alten Meister‘ Klopstock, Goethe, Hölderlin als auch der französischen Avantgarde entwickelt habe. Seine Texte seien „Variationen“ eines beschränkten, überschaubaren Vokabulars und Bildrepertoires, ihre Modernität liege in der „Autonomisierung der künstlerischen Mittel“.

Einen ganz anderen methodischen Zugang wählen schließlich zwei im weiteren Sinne des Wortes ‚motiv‘-orientierte Beiträge. Károly Csúri untersucht Trakls Spätwerk hinsichtlich der ihm zugrunde liegenden Spannung zwischen heils-und unheilsgeschichtlicher Bestimmung der Gedichtwelten. Obwohl sich Trakl in seiner späten Phase zunehmend an Vokabular und Bildmotiven der Bibel orientiert habe, sei seine Sprache dennoch immer „autonom“ geblieben. Die Bibel sei zwar als Kohärenz stiftendes „Hintergrundnarrativ“ bedeutsam, doch habe der Dichter die biblische Narration nie bloß übernommen, sondern sei auch zu ihr (wie zu anderen ‚Impulsgebern‘) in einen kreativen intertextuellen Dialog getreten.

Hans Weichselbaum, dem die germanistische Forschung grundlegende Kenntnisse über das Leben und das Umfeld des Autors Trakl verdankt, geht in seinem Aufsatz der Frage nach, wann und wie das Thema „Krieg“ in den Gedichten Trakls und seiner zeitgenössischen Dichterkollegen aus der Salzburger „Pan“-Gruppe auftaucht. Weichselbaums kulturhistorischer Kommentar, der den biographischen und gesellschaftlich-historischen Hintergrund der Texte fokussiert, beweist auf überzeugende Weise, dass auch eine autorzentrierte Methode erhellende Einblicke zu geben vermag, wenn sie sich als Instrument der Rahmung und ergänzenden Kommentierung versteht.

Stéphane Pesnel bietet ein hilfreiches Modell der Didaktisierung von Trakl-Gedichten im Hochschulunterricht. Als Zugang wählt er die strukturalistisch-narratologisch orientierte Analyse. „Methode“ versteht er im „etymologischen Sinne des Wortes“ als gemeinsamen Weg. In einem gelenkten Gespräch sollen die Studierenden sukzessive ausgewählte Aspekte der Gedichte fokussieren, einen möglichen ‚Sinn‘ des Ganzen aber für sich selbstständig erarbeiten. Das Ziel eines solchen Modells ist die Vermittlung eines wissenschaftlichen Anspruchs, d.h. die Objektivierbarkeit von Aussagen. Pesnels didaktische ‚Handreichung‘ beantwortet die zentrale Frage des universitären Literaturunterrichts: Wie kann in den Studierenden der wissenschaftliche Blick geschult und zugleich ihre analytische Kreativität gefördert werden?

Michael Penzold berichtet von seinem erfolgreichen Versuch, ein Trakl-Gedicht für Schülerinnen und Schüler der Pädagogischen Hochschule (zukünftige Lehrerinnen und Lehrer an Grund-, Haupt- und Realschulen) didaktisch aufzuarbeiten, indem er es ‚greifbar‘ gemacht hat. Er zeigt, auf wie frische, unkonventionelle und erstaunlich lebendige Weise Trakls Gedicht Der Schatten gelesen werden kann. Penzold präsentiert ein Unterrichtsmodell, das im Wesentlichen auf die Vorgabe von Wissen verzichtet. Sein rezeptionsästhetischer Ansatz zielt auf die „lebensphilosophische Dimension“ des Textes. Sein zentrales Interesse gilt der persönlichen Resonanz der Schülerinnen und Schüler, womit er gewissermaßen deren ‚übliche‘ Widerstände schwierigen Texten gegenüber unterwandert. Der Erfolg seines Modells beweist (allen Unkenrufen zum Trotz), dass junge Menschen Freude an der Offenheit poetischer Texte haben, da sie in der Herausforderung durch ’schwierige‘ Texte ihre eigene geistige Lebendigkeit spüren. Penzold beschreibt exemplarisch, wie die ‚Selbstbefreiung‘ der Studierenden aus angelernten Deutungsmustern glücken kann.

Der Band schließt mit zwei Beispielen einer kreativen Trakl-Rezeption. Die zwei jungen Autoren Elias Hirschl und Martin Fritz reagieren auf Trakls ‚Zauber‘ mit humoristischem Gegenzauber. Hirschls schwarzhumoriges Trinklied Verklärter Rest ‚hinkt‘ gewaltig, um den schweren Schritt von „Alkoleichen“ zu evozieren. ‚Hinkjambus‘ nannten die Griechen nicht von ungefähr ihren Versfuß der Satire. Es folgt ein kurzer Prosatext (Verklärter Herbst), der Monolog eines wie im Suff Meditierenden, ein Cocktail aus Scherz und Jammer, in welchem Herbst- und Frühlingsgefühle durcheinander geraten.

Martin Fritz inszeniert in seinem Text Die Verwandlung der Reseden verwandeln das lustvolle Versinken der Erzählinstanz im Labyrinth ellenlanger Sätze. Trakls Melancholie mutiert hier zu lässiger Larmoyanz und gutem Humor („… ein kurzer Track heißt dann wohl Trakl“). Einziger Kritikpunkt: Der insgesamt sehr erfrischende Text hat den letzten moralisierenden Absatz nicht nötig.

Insgesamt überzeugt der Band durch seine Komplexität, seine ausgewogene Struktur und die kluge Anordnung der Beiträge. Er ist in gleichem Maße ein anregendes Lesebuch für passionierte Trakl-Kenner wie eine wertvolle ‚Handreichung‘ für Lehrende und Studierende.

Sieglinde Klettenhammer, Johann Georg Lughofer Georg Trakl
Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen.
Wien: Praesens, 2016.
(Ljurik 4. Internationale Lyriktage der Germanistik Ljubljana 2016)
205 S.; brosch.
ISBN 978-3-7069-0866-5.

Rezension vom 06.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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