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#Essay

Gelenekle Deney

Erhan Altan, Thomas Eder (Hg.)

// Rezension von Günter Vallaster

Projekte, die über den eigenen sprachlichen Tellerrand hinausblicken und interkulturelle Begegnungen und transkulturellen Austausch bewirken, verdienen immer höchste Anerkennung. Im vorliegenden Unternehmen trifft dies in einem besonderen Maße zu, denn es bringt gegenwärtige experimentelle Literatur zweier Kulturkreise mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber vielen historischen und aktuellen Verbindungen zusammen, nämlich des türkischen und des österreichischen.

Unter der Themenstellung „Experiment mit Tradition“ luden der Übersetzer und Essayist Erhan Altan und der Literaturwissenschafter Thomas Eder die jüngeren AutorInnen Ann Cotten, İdil Kızoğlu, Petra Nachbaur, Mehmet Öztek, Lisa Spalt, Ömer Şişman, Anja Utler und Murat Üstübal zu poetologischen Reflexionen ein, die als Grundlage für Workshops in Istanbul und Wien dienten, in denen sich die AutorInnen über ihre literarische Arbeit austauschten. Diese Essays wurden zusammen mit Beispielen literarischer Texte der AutorInnen mit viel Akribie von den ÜbersetzerInnen Erhan Altan, Sara Heigl, Burak Özyalçın und Hayati Yıldız ins Deutsche bzw. Türkische übertragen, woraus der vorliegende Sammelband entstand.

Dem Titel der Workshops und des Bandes sind zwei Bedeutungsstränge inhärent, die die Situationen der experimentellen Literatur in der Türkei und in Österreich auf den Punkt bringen:
In Österreich konnte sie gerade in den letzten vier Jahrzehnten, getragen von editorischen, meist AutorInnen-Initiativen wie herbstpresse, edition neue texte, Freibord, Ritterverlag, Sonderzahl, Das fröhliche Wohnzimmer, Haymon, edition ch, Blattwerk, kolik, zzoo eine starke Tradition oder besser: eine Präsenz entwickeln, die sich in bestimmten Aspekten wie Sprachspiel und Konzeptualität über mehrere Jahrhunderte rückbinden lässt – wenn auch einige der „Ismen“ des frühen 20. Jahrhunderts an Österreich vorbeizogen, der Weg der Wiener Gruppe und einiger Ikonen wie etwa Ernst Jandl zur Anerkennung lange und mühsam war (auch heute zählen Werke experimenteller Literatur nur selten zu den öffentlich prominent platzierten) und Stars der letzten Jahre wie Ferdinand Schmatz und Franzobel nur unter weitgehender Aufgabe experimentellen Schreibens ihren Status halten können.
In der Türkei bedeutet die Beschäftigung mit experimenteller Literatur nach wie vor zunächst einmal ein Experiment mit einer weitgehend monolithisch lastenden formalisierten literarischen Tradition, die es mit viel Wagnis auszuhebeln gilt.

Da experimentelle Literatur zu einem guten Teil mit den spezifischen Möglichkeiten der Sprache, in der sie verfasst wird, arbeitet, liegt in der daraus resultierenden – bisweilen hochgradigen – Schwierigkeit, sie zu übersetzen, genau das enorme Spannungsmoment: Mit welchen semantischen, lexikalischen und formalen Mitteln kann eine größtmögliche Entsprechung erzielt werden? Oder aber: Was ergeben sich mit den Möglichkeiten der Zielsprache für Texte, wohin führt die Übersetzung? Inwieweit ist es möglich, die Balance zu halten zwischen Nähe am Ausgangstext, seiner Vermittlung in den anderen Sprach- und Kulturkreis und der Realisierung einer eigenen poetischen Qualität mit den Gegebenheiten der Sprache, in die übersetzt wird? En passant sensibilisiert eine Übersetzung experimenteller Literatur dafür, dass 1:1-Übersetzungen – auch in der konventionellen Literatur – eigentlich nicht realisierbar sind und sie zeigt das hohe Ausmaß des kreativen und poetischen Anteiles der ÜbersetzerInnen am Resultat. Von unschätzbarem Wert für eine literarische Übersetzung ist nicht zuletzt die kooperative Beteiligung der AutorInnen. Für all dies liefern die im ersten Teil des Buches unter dem Titel „Şiirler / Gedichte“ versammelten Texte eindrucksvolle Antworten und Belege, auch für LeserInnen, die des Türkischen oder Deutschen nicht mächtig sind.

Ann Cotten eröffnet den Text-Reigen und zieht den ganzen Gemüsegarten literarischer Stil- und Gattungsformen elegant durch den Kakao Kakao Kakao Kakao Kakao.
In İdil Kızoğlus Gedichten brechen sich körperliche Erfahrungen wie Krankheit in „obfression“, Zeit im titellosen zweiten Text mit dem phänomenalen Beginn „es zieht das klaffen nach der uhr“ oder Sexualität in „schneeeingeschlafen“ ausdrucksstark in geradezu geologisch präzisen irdischen Bildern, eingebettet in eine tektonisch gestaltete Syntax. So steigert sich der „rhythmus springlut“ in schnellen Schnitten zur Penetration als „revolverung“ mit anschließendem Verstummen „seiner glitschigen symphonie“, „stocksteif“ steht am Beginn, „stocksteife sprachen“ am Ende von „schneeeingeschlafen“.
Petra Nachbaurs Anagramm-Gobelin „Die Braut erschrickt vor dem offenen Leben“, ein Akrostichon, das sich anagrammatisch ausfächert, stellt wohl die größte übersetzerische Herausforderung des Bandes dar. Gewiss gäbe es von ihr „leichter“ zu übersetzende Texte wie das Gedicht „ocean boy 1000“, aber es ist völlig zuzustimmen, dass gezeigt wird, dass sich auch dieser Text einer Translation nicht verschließt: Erhan Altan meisterte die Aufgabe mit Bravour und präsentiert die Anagramme, die aus der türkischen Übersetzung des Ausgangssatzes in Rücksprache mit der Autorin gewonnen wurden. Und das Anagrammgedicht mit der Überschrift „(du musst)“ gerät im Türkischen zu einer sehr schönen Spiegelung, bei der die Überschrift an den Schluss des Textes wandert.
Mehmet Özteks lyrische Prosa-Miniaturen beginnen mit dem Statement „ich bin nicht…“ nein, nicht Gott, sondern „…Google“, der zweite Text bietet, auch als Kritik am Literaturbetrieb lesbar, ein Match zwischen den „Lyrischen“ und „Geometrischen“ („Der Kommentator von Jemba Jemba“), der dritte mit dem Titel „Dies ist kein Angebotsschreiben“ füllt die Form eines Kaufvertrags von „1. INHALT“ bis „6. ZAHLUNGSART“ und „7. OPTION“ originell mit Ich- und Schreibreflexionen. Einige „He!“ und „Seufz!“ darin lassen dem Stil nach darauf schließen, dass auch Lisa Spalt kräftig mit angepackt hat, um den Text-Karren ins Deutsche zu ziehen.
Lisa Spalt ist vor allem Prosa-Autorin, ihre Prosa ist jedoch so dicht und reich an Bildern und sprachkreativen Wendungen, dass sie sich ohne weiteres in den Kontext avancierter Gedichte fügt, als Lyrik in Fließtext sozusagen. Ihren Beitrag bilden Ausschnitte aus Grimms, einer Entlarvung deutscher Volksmärchen, die auch im türkischen Kulturkreis durchaus rezipiert werden, als Folie für eine ganze Palette heutiger Scheinmärchenwelten, die aufgerollt wird, indem einige Märchen mit den jeweiligen Scheinmärchenweltsprachen eingewickelt werden.
„haus zu verkaufn“ und „Ein Fehlgegangener Z-Bericht“ von Ömer Şişman sind über weite Strecken laut- und konzeptpoetische Meisterwerke, die in manchen Passagen auch an Decollagen erinnern: Da werden einzelne Fetzen, die aus Partezetteln, Einkaufszetteln, mündlicher Kommunikation in der Straßenbahn oder ähnlichem stammen könnten, zu einem spannungsvollen lyrischen Portrait arrangiert oder durch Aussparung oder Zudecken des Kontexts pointiert zugespitzt, an anderer Stelle ein Tages- oder zumindest Handlungsablauf von 0 bis 81 durchgezählt und als Mensch-Maschine im Sinne der deutschen Electronic-Pioniere „Kraftwerk“ durchexerziert: „ch bn nmlich n robotr“. Viel an beklemmender Alltagserfahrung vermittelt der lyrisch angeordnete Bericht über die „2,5 jahre alte zerha“, die „an ein beatmungsgerät angeschlossen“ leben muss und deren Familie nach Diebstahl des Stromerzeugers ein neuer gespendet wurde. Die Wortfolge „zerha ist nicht allein erhält stromerzeuger“ wird dann durch eine konzeptuelle Turbine gewirbelt, die 800 Verse erzeugt.
Anja Utler ist mit vielschichtiger Naturlyrik, eigentlich avancierten lexikalischen Mensch-Natur-Verwebungen sowie einem Auszug aus ihrer lyrischen Bearbeitung des antiken Sibylle-Mythos vertreten, deren anfängliches Pathos („die zunge schlägt funken im körper: loht auf“) Doppelpunkt für Doppelpunkt durch eine raue Syntax gereicht wird, bis es „entquillt“, „vibriert“, „erodiert“, „ebbt“ und „zerfällt“.
In Murat Üstübals Texten wird aufgeklaubt, was alles an Gram-Kram herumliegt: „harndampf dämpfend ethiko-status. grabender globaler arkus“ heißt es etwa in „Ein Gramm Gram“. Sprach- und Technikkritik prägen seine weiteren Texte „die gereinigten“ und „Detto-Schema“.

Der zweite Teil des Buches, „Denemeler / Essays“, beeindruckt mit poetologischen Überlegungen und Ausführungen der vertretenen AutorInnen, die in der Form wohl noch nirgends zu lesen sind, zumal sie oft mit interessanten und erhellenden Autobiographien des Schreibens verbunden wurden. Da der Begriff „Experiment“ nicht zuletzt dank der Studien von Thomas Eder, Michael Gamper und anderen für die Literatur etabliert und von der einseitigen Metonymie „Reagenzglas“ befreit ist, konzentrieren sich die Ausführungen im Essay „Experiment mit Tradition“ von Erhan Altan und Thomas Eder, der diesen Abschnitt programmatisch eröffnet, vor allem auf den der „Tradition“, der in der Tat ein wenig nach Lodenfilz und beschaulicher Brauchtumspflege riecht. Im Wesentlichen gestützt auf Adornos „Ästhetische Theorie“ fokussiert die Erörterung auf den Begriff des „Innovativen“, „Neuen“, das ohne das „Alte“, mithin ohne den historischen Kontext nicht zu Tage treten kann und die Forderung mancher avantgardistischer Strömungen nach einer „tabula rasa“ maximal als provokative Geste stehen lässt. Ein Umstand, der nicht nur geschichtswissenschaftlich Gebildeten einleuchten sollte, und hier wäre es auch interessant gewesen, jüngere Ansätze wie den von Boris Groys („Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“), der über den Poststrukturalismus (Derrida) und den Begriff der „Differenz“ als möglichem Impetus für das Neue Adorno, Altan und Eder durchaus die Hand reicht, in die kritische Erörterung einzubeziehen.

Die kompakte Skizzierung der Entwicklungen experimentellen Schreibens in der Türkei und in Österreich kommt hinsichtlich der Türkei zu folgendem Befund:
„Die Avantgarde hat in der türkischen Poesie zwar keine kontinuierliche Entwicklung erfahren, aber immerhin ein immer wieder auftauchendes, unterschwelliges Dasein geführt“ (S.155). Ein verbindendes Element der Essays der türkischen AutorInnen ist dann auch das Festmachen von Spuren experimenteller Schreibzugänge unter dem Monolith des freien Verses. Ein gemeinsamer Nenner mit den Essays der österreichischen bzw. in Österreich lebenden BeiträgerInnen ist die Beschreibung von Leseerfahrungen und intertextuellen Anknüpfungspunkten, die eigenes literarisches Schreiben motivierten. „Was, denke ich, sähe wohl ein Fisch, würde er in einen Spiegel schauen?“ fragt Anja Utler in ihren Thesen, in denen sie zum nur zu unterstreichenden Schluss kommt, dass ein Text dann von hoher Qualität ist, wenn er Widerstand als Spannung aufbaut. Die Anordnung seiner Augen lässt die Annahme zu, dass der Fisch additiv über ein Blickfeld von bis zu 360 Grad verfügt. Genau so ein Gesichtsfeld hat auch die experimentelle Literatur im Auge. „Gelenekle Deney / Experiment mit Tradition“ ist ein sehr schönes, widerständiges und spannendes Beispiel dafür.

Erhan Altan, Thomas Eder (Hg.) Gelenekle Deney
Gedichte, Essays.
Istanbul: Pan Yayincilik, 2008.
216 S.; brosch.
ISBN 9944-396-41-7.

Rezension vom 22.09.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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