#Lyrik

Gehen, schauen, sagen.

Helwig Brunner

// Rezension von Christian Teissl

Vor sechs Jahren hat der heute 35jährige Grazer Autor Helwig Brunner mit dem schmalen Band „Auf der Zunge das Fremde“ eine gewichtige Probe seiner lyrischen Arbeit vorgelegt. Diese Sammlung beinhaltet knappe, mit wenig metaphorischem Material auskommende Versgebilde, grundiert von einem durchgängigen lyrischen Tonfall, der entfernt an die Zwölftonspiele Josef Matthias Hauers erinnert. Der Autor präsentiert sich darin als ein sensibler, die Fährnisse der Sprache keineswegs scheuender Naturlyriker, der stets bestrebt ist, seine eigenen Befunde zu hinterfragen und die allzu glatte Oberfläche der Sprache mit den Mitteln der Reflexion aufzurauen.

In der Zeit, die seither verstrichen ist, hat er sich auf den verschiedensten literarischen Feldern versucht, hat, unentwegt auf der Suche nach einem eigenen Stil, eine Unzahl unterschiedlichster Texte geschrieben: Essayistisches, Poetologisches, erzählende Prosa und – in wiederholten Schüben – Gedichte, die er meist zu Zyklen zusammengefasst hat. Von dieser überaus reichen, nur zum Teil und verstreut publizierten lyrischen Produktion der letzten Jahre hat er lediglich einen Bruchteil in seinen nun vorliegenden neuen Band aufgenommen, wohl um größtmögliche Geschlossenheit zu erzielen. Der Titel dieser Sammlung ist bereits Programm. Es drückt sich in ihm die Chronologie eines empirischen Verfahrens aus:

Der Lyriker geht, einem Naturforscher ähnlich, der eine Expedition unternimmt, vom Schreibtisch hinaus ins Freie, ins Offene, um ungehemmt wahrzunehmen (zu „schauen“); mit analytisch geschultem Blick registriert er alles Geordnete und alles Ungeordnete, Bewegung und Ruhe, Lärm und Stille, vorgefertigte Schönheit und regelloses Chaos. Das solcherart Wahrgenommene, in sich Aufgespeicherte vermittelt er schließlich durch die Form des Gedichts (durch das „Sagen“, das „Aussagen“) seiner Mitwelt, in all seiner Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Heterogenität: Dementsprechend wirken die Gedichte dieses Bandes vielfach wie Aufzeichnungen eines Bewusstseinsstroms; sie verzichten durchgehend auf Leerzeilen, auf jegliche Andeutung einer strophischen Struktur, und der Leser ist genötigt, sich selber Zäsuren im Text zu setzen. Die Syntax ist vielfach elliptisch verknappt, gebrochen, fragmentiert, der Autor verzichtet über weite Strecken auf eine durchgehende syntaktische Struktur und auf klar voneinander abgegrenzte Aussagen; manches geht ineinander über, und nicht selten löst, ähnlich wie in einem inneren Monolog, ein Bild völlig unvorbereitet das andere ab.

Man denkt bei der Lektüre dieser Texte an den vertikalen Schnitt durch eine Landschaft: Verschiedene Schichten liegen da übereinander, die eine bricht unvermittelt ab und gibt einer anderen Raum, manches drängt an die Oberfläche, anderes sinkt in die Tiefe ab. Die einzelnen Bilder in einem Gedicht, die einzelnen Verse, die teils von einer strengen Tonalität bestimmt sind, teils aber auch sich der Prosa oder einem ironischen Parlando annähern, reiben sich aneinander; aus dieser Reibung, aus der Spannung zwischen den einzelnen Elementen eines Gedichts ergeben sich immer wieder eruptive Momente: Plötzlich taucht dann aus dem Ineinander der Bilder ein ansprechbares Du auf, plötzlich ist von einem „Wir“ die Rede, an einer anderen Stelle findet sich – nach den knappen Befunden „Der Geschichte fehlt der Erzähler“, womit der Autor ein Gedicht einleitet, und „Wir vermuten einander, wo sonst,/ im Dachsbau unter der Haut …“, womit er es, eine neue Bildkette beginnend, weiterführt – der unerwartete Ausruf: „Da streift sich etwas ab!“ (55), der auf ein momentanes, ebenso peripheres wie flüchtiges Ereignis hindeutet. Es ist kein im gängigen Sinn geordnetes, kein in sich ruhendes Sprechen, von einem Ich ausgehend auf ein Du hin, es sind vielmehr die ins Lyrische übersetzten Aufzeichnungen eines Seismographen, die auf den Seiten dieses Buches festgehalten sind.

Helwig Brunners neue Lyrik (und sie ist neu in einem doppelten Sinn, denn in und mit ihr hat sich die Sprechweise des Autors von Grund auf geändert, erneuert) ist zudem in hohem Maße konstruktiv: In ihr wird Welt hergestellt, werden Gegenstände des Schauens und Sagens in neue Zusammenhänge gebracht, alte Wege nicht zu Ende gegangen und dafür neue Wege erschlossen.

Am eindringlichsten ist Brunners poetischer Weltentwurf dort, wo er sich in transparenten, gänzlich zurückgenommenen Versgebilden manifestiert, etwa in dem folgenden: „EINEN Atemzug voraus,/ einen Atemzug verspätet,/ dazwischen die Gegenwart,/ unberührt, windstill, so/ wäre von dem Versäumnis/ erzählt. Danach stell ich/ die Uhr, schamlos, pünktlich.“ (S. 81) Hier ist kein Wort zuviel gesagt; die Bilder illustrieren nichts mehr, sondern schaffen sich einen neuen, einen eigenen Ort, an dem sie bestehen können.

Helwig Bruner Gehen, schauen, sagen
Gedichte.
Graz: Steirische Verlagsgesellschaft, 2002.
108 S.; brosch.
ISBN 3-85489-065-6.

Rezension vom 13.03.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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