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Gefallene Blüten

Clementine Skorpil

// Rezension von Edit Rainsborough

„Es gibt noch zu wenige, die kotzen“

„Als Autorin will ich Menschen sichtbar machen, die wir an den Rand der Gesellschaft drängen“, schreibt Clementine Skorpil in den Anmerkungen zu ihrem dritten Roman Gefallene Blüten.

Im Shanghai von 1926 macht sich Ai Ping, eine alte Frau aus gutem Hause, mit gebundenen Füßen nach altem chinesischen Schönheitsideal auf die Suche nach ihrer Enkelin Namens Pflaumenblüte, eine der „gefallenen Blüten“, und gerät in einen Dschungel der Madennester. So werden Shanghais zahlreiche Bordelle genannt.
Ai Ping verkörpert eine für die damalige Zeit typische, aber auch ungewöhnliche Frau. Sie repräsentiert Tradition und altes Wissen mit viel Menschlichkeit und geht Wege abseits der alten Ordnung. „Ai Ping hält sich nicht an die Regeln, heißt es im Dorf. Wenn andere Frauen in den Frauengemächern des ersten Stockes sitzen und stricken oder weben […], läuft Ai Ping im Dorf die Gassen auf und ab. Den ganzen Tag. Das war immer so.“

Sie reist nach Shanghai, mietet sich im „Stillen Bambushain“ ein und sucht Hilfe, Verbündete, um ihre Enkelin zu finden. „Sie hat braune Flecken auf der Iris. Bestimmt hat sie Sorgen mit der Familie. Dann staut sich das Qi in der Leber und verursacht Hitze.“ Skorpil beherrscht es meisterhaft, das Blumige chinesischer Formulierungen ins Deutsche zu übertragen. Unaufgeregt, feinsinnig und sehr genau beschreibt sie Menschen und Dinge, schafft es, alte Weisheiten so nebenbei in ihren Text einzuflechten. Historisches verschmilzt bei Skorpil mit Fiktivem. Sie beschreibt sachlich. Zeigt Verhältnisse auf.

Ihre Figuren sind lebendig, vielschichtig, aber auch nicht immer nur sympathisch. Der alten, archaischen Ai Ping steht der junge weltgewandte Student Lou Mang zur Seite. „Er hatte feingliedrige Hände. Die Hände eines Mannes, der nie gearbeitet hat. Wenn er müde war, sah er aus wie ein Kind. Die Augen wurden rund und weich und das Kinn, das er immer ein wenig vorstreckte, zitterte. Ein hübscher Junge, dachte Ai Ping, schade, dass er keine Frau finden wird. Wer will so einem die Tochter geben? Einem, der nicht nur nichts besitzt, sondern auch gar nichts besitzen will. Der sich treiben lässt wie ein Schmetterling im Wind, statt sich seinen Studien zu widmen, die Prüfungen zu absolvieren und seinen Ahnen Ehre zu machen. Wer würde so einen heiraten außer einem gefallenen Mädchen, das nicht mehr nach Hause kann und keinen ehrbaren Ehemann findet?“ Lou Mang, der junge Kommunist, dessen Vater eine Seidenfabrik besitzt, und der von einer gerechteren Welt träumt, wird Ai Pings Partner bei der Suche nach Pflaumenblüte. Dabei geraten sie an die „Grüne Bande“, eine Triade in Shanghai, die mit den Franzosen im Rauschgift- und Geheimdienstgeschäft zusammenarbeitete und von Pockennarben-Huang angeführt wurde. Auch dies ist ein historischer Fakt.

Einem großen, bedächtigen Fluss gleich fließt die Geschichte langsam, aber unaufhaltsam immer weiter. Das Unterfangen einer alten Frau und eines mittellosen Studenten gegen die Mächtigen, die Shanghai kontrollieren, scheint zuweilen ein ungleicher Kampf zu sein. Geschichtliches geht bei Skorpil Hand in Hand mit Erfundenem. Aussergewöhnlich fein webt sie eine spannende Geschichte aus historischen Fakten und Figuren und fiktiven Charakteren, die sie mit viel Liebe und sehr plastisch beschreibt. Behutsam und mit starken Bildern entführt die Autorin in eine Welt, deren Mechanismen der unseren nicht ganz unähnlich sind.

„’Komm mit‘, sagte Lou. ‚Ich zeig dir etwas.‘ […] Caoans Augen weiteten sich. Die weiß getünchte Halle wurde von Gaslampen matt erleuchtet. Am Rand standen die Kessel, in denen die Seide gekocht wurde. Frauen rührten in der Seifenlauge, Kinder griffen in die kochende Brühe, um die Fäden herauszuholen. Die Fünf-, Sechsjährigen schrien, wenn die Frauen ihre Hände packten und in die kochende Lauge drückten. Die Älteren wimmerten leise. Schlieren von Blut schwammen in der gelblich-grünen Lauge. Caoan rannte hinaus, Lou folgte ihm. Der Junge kotzte neben den Eingang. […] Caoan wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. ‚Warum jagen wir diese Teufel nicht aus dem Land?‘ Lou hob die Schultern. ‚Es gibt noch zu wenige, die kotzen‘, sagte er.

Lou Mang kämpft für Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Vor dem historischen Hintergrund, dass das Buch „etwa ein Jahr, bevor Chiang Kai-shek mit Hilfe der Goumingdang das große Massaker unter den Kommunisten verübte“ spielt, bekommt die Figur des jungen Kommunisten eine besondere Bedeutung.

Und auch der Humor kommt bei Skorpil nicht zu kurz. Marx als Pferdegott („Die Verehrung kommunistischer Gottheiten erwies sich als schwierig“) und Mao als Dichter („Die Gedichte unseres Genossen Mao haben den bürgerlichen Ästhetizismus vergangener Jahrhunderte überwunden“) gesellen sich zu den zahlreichen anderen historischen Figuren.

Neben dem immensen Wissen über chinesische Kultur, das Skorpil in ihren Roman packt, neben der wunderbaren Sprache und den mitreißenden Bildern ist es die Vielschichtigkeit, mit der sie in menschliche Abgründe eintaucht, eine faszinierende Atmosphäre schafft und eine ureigene Geschichte kreiert. Wie schaffen es drei vollkommen unbedeutende Personen, innerhalb kürzester Zeit Shanghais Mafia aufzumischen, sich mit ihren mächtigsten Männern anzulegen und sie zu verunsichern?

Verunsichern und abschrecken lassen sollte sich der Leser allerdings nicht von dem Namensverzeichnis zu Beginn des Buches, denn dieses gehörte eigentlich ganz nach hinten!

Gefallene Blüten.
Roman.
Hamburg: Argument Verlag, 2013.
345 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-86754-212-8.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 16.07.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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