Im 20. Jahrhundert schrieben Rilke und Trakl Sonette, Georg Heym, Theodor Däubler, Paul Zech oder Albrecht Haushofer, der von Ende 1944 bis zu seiner Erschießung im Frühjahr 1945 seinen Tagen in Haft im Gefängnis von Berlin-Moabit die Formstrenge von Sonetten entgegensetzte. Doch die lange gesamteuropäische Tradition von Petrarca über Luís Vaz de Camões und Edmund Spenser bis zu William Wordsworth und Charles Baudelaire franste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend aus, auch wenn bedeutende Lyriker wie Robert Frost, Robert Lowell, John Berryman oder Joseph Brodsky Sonette verfassten.
Dass die mit dem Georg-Büchner-Preis geehrten deutschen Lyriker Durs Grünbein und Jan Wagner inzwischen gern Sonette schreiben – wie auch etwa Ernst-Jürgen Dreyer –, läuft diesem Faktum genauso wenig zuwider wie die Sonette aus der so genannten Sächsischen Dichterschule um Karl Mickel und Rainer Kirsch oder, sieht man nach Österreich, Robert Schindel.
Eine wörtlich abgeleitete Übersetzung des Wortstammes „sonus“ würde „Klinggedicht“ lauten. Klingklangvoll war auch das Echo auf die wohl umfangreichste Sammlung des europäischen Sonetts in Buchform, die im Jahr 2002 Friedhelm Kemp edierte. Die zwei Bände, die mehr als fünfhundert Sonette in der jeweiligen Originalsprache und in Übersetzung präsentierte, summierten sich zu 984 Druckseiten.
Achtzehn Jahre später, im Winter 2020, erschien mit Gemütsstörungen (Limbus) ein Lyrikband der in Wien lebenden Journalistin und Autorin Kirstin Breitenfellner, in der sie Poeme ins Korsett des Sonetts spannte. Damals stand ein Du im Mittelpunkt. Nun, nach den letzten, mehr als wechselhaften, von Krieg, Krankheiten und einer globalen Pandemie geprägten Jahren, steht ein Ich im Zentrum. Aber welches Ich? (Wieso das Buch dann Gedichte ohne ich überschrieben ist, wird im Finale aufgelöst.) Das „ich“, liest man da, erhebt ein joch / heißt ein subjekt willkommen. Subjektfindung, eine Persönlichkeits-Imago? Oder doch nicht? Denn das ich, es existiert nicht oder doch / sich selbst nicht unbenommen (S. 13).
Breitenfellner spielt. Sie spielt mit Metrum und Reimfolge. Sie spielt aber auch mit Schicksal, mit Erfahrungen und Erlebnissen. Es tauchen nämlich in dem in Kleinschreibung gesetzten Band, der in zehn Sektionen unterteilt ist, Worte wie „unheil“, „brutal“ und „roh“ auf.
Vieles korrespondiert miteinander. Da heißt es zu Anfang etwa:
ich selbst zu sein
ein dunkles loch
das ich so klein
es tagträumt noch (S. 12)
Seiten später ist dann von diese Passage reflektierender Selbstermächtigung die Rede: ich mache einen reim / ich dichte welt, um ganz zu sein (S. 21).
Manche Gedichte, die sich suchen, ein Ich suchen, einen Ich-Sinn suchen, kippen ins Kantilenenhafte, ins heiter-unverzagt Verspielte. Der Duktus ist biegsam, die Kreuzreime geraten oft melodiös beschwingt-ausschwingend.
Vieles will man sich einprägen, noch mehr anstreichen in dieser anthropologisch wie stofflich und dinglich – es gibt auch Poeme über Kleidung und Möbel – tiefblickenden, dramaturgisch klug komponierten Zusammenstellung, auch wenn man davor zurückschreckt angesichts des elegant ausgestatteten Bandes.
In einer poetologischen Nachbemerkung, Kreisel, bekennt Breitenfellner, dass die Normen des Sonetts ein Stabilisationsfaktor seien, dass das Ich nur durch Vorgegebenheiten (S. 91) zu sich selbst finden könne, im Klang, im Wort, eben in diesen Gedichten in Sonettform.
Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (edition atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).