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Gaukler

Christine Teichmann

// Rezension von Veronika Hofeneder

Gaukler sind nicht nur die Eltern von Dora, der Ich-Erzählerin in Christine Teichmanns neuem Roman, die sich sich als Artisten und Clowns verdingen. Im weiteren Wortsinn trifft die Bezeichnung auf beinahe das gesamte Figurenpersonal des Romans zu. Nichts ist hier so wie es scheint, alle geben vor, etwas anderes zu sein, und haben etwas zu verbergen.

Dora, wohnhaft im Ruhrpott, verheiratet und Mutter von zwei pubertierenden Kindern, steckt gerade in einer veritablen Midlife-Crisis, als sie die Nachricht vom plötzlichen Tod und unmittelbar bevorstehenden Begräbnis ihrer Mutter erhält. Die außerplanmäßige Reise von Duisburg zur Trauerfeier nach Graz verschafft der nach Eigendefinition entscheidungsschwachen Dora eine Verlängerung des von ihrem Ehemann oktroyierten Ultimatums, sich zwischen ihm und ihrem – vorgeblichen – Liebhaber zu entscheiden. Eigentlich nur „aus einer Laune heraus“ hat Dora ihre langjährige Ehe „auf die Kippe gestellt“ (18), denn die eine – wirkliche – Affäre mit ihrem Arbeitskollegen Moritz ist schon wieder Geschichte und die andere findet nur in ihrer Phantasie mit dem imaginierten Traummann „Maximilian dem Großen“ statt.

Die Reise in die Heimat ist dann auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, zu den familiären Wurzeln, die schon seit langem unter der Oberfläche ruhen. So verrät Dora ihren beiden Kindern kurz vor ihrer Abfahrt noch die wesentlichen Tricks, wie man professionell Feuer spuckt – bisher hat sie es peinlichst vermieden, ihre Familie in die Geheimnisse ihrer Zirkusvergangenheit einzuweihen. Als künstlerisch wenig ambitionierte Tochter der beiden professionellen Clowns Benno und Eurydike – „Mama hatte ihren absurden Vornamen auf die Bühne mitgenommen“ (6) – hatte Dora mit diesem Kapitel ihres Lebens eigentlich schon abgeschlossen. Ihre zumeist als desinteressierte Teenager auftretenden Kinder sind allerdings über die Einblicke in die ungewohnte Materie und die plötzlich gar nicht mehr so uncoole Mutter begeistert; in ihrer Abwesenheit basteln sie dann sogar gemeinsam mit dem Vater Feuerkeulen, um mit dem Kunststück beim Schulfest auftreten zu können. Dora arbeitet zwischenzeitlich ihre Familiengeschichte auf, in ihrer Rolle als „Zuschauerin […], die am Rand sitzt und das Treiben genießt, ohne selbst in den Strudel gezogen zu werden“ (43) rekapituliert sie die Lebensgeschichten und Persönlichkeiten ihrer Eltern, deren gemeinsame Beziehung und ihr Verhältnis zu den Kindern. Doras (artistisch sehr begabte) Schwester Tina kommt zu dem poetischen Urteil: „Sie waren so schlechte Clowns […] und so wunderbare Menschen.“ (205)

Tatsächlich ist an diesen beiden Menschen, die ihren Traum vom Zirkus so konsequent leben, sehr vieles liebenswert und ihr integeres Arbeitsethos, das sich nicht dem Diktat des materiellen Profits beugt, nachgerade bewundernswert. Trotz oftmaliger finanzieller Engpässe tritt man nicht auf jeder Bühne auf (z. B. bei Wahlkampfveranstaltungen gesinnungsfremder Parteien) oder nützt andere als die eigenen artistischen und schauspielerischen Fähigkeiten zum Geldverdienen; für erzwungene tollpatschige Kinderauftritte anderer Familienbetriebe haben sie nur Verachtung übrig, die Auftritte der eigenen Kinder sollen ebenso künstlerisch wertvoll wie freiwillig sein. Als sich diese dann im Teenageralter verweigern, treten die Eltern wieder nur mehr im Duo auf.

Neben so faszinierenden wie kenntnisreichen Einblicken in akribische Vorbereitung, diszipliniertes Training, psychologisches Arrangement, technischen Ablauf und ökonomische Rahmenbedingungen von Zirkusnummern und Kunststücken – die Autorin ist selbst praktizierende Artistin – werden auch die individuellen Schicksale der Familienmitglieder genauestens unter die Lupe genommen. Der frühe Tod des Vaters, die Depression der Mutter und ihre rätselhaften Todesumstände, Ehebruch und Kindesmissbrauch sind hinter dieser familiären Kulisse verborgen und werden sinnhaft miteinander in Beziehung gesetzt, jedoch ohne einen absoluten Wahrheitsanspruch zu erheben. Das Spiel mit den verschiedenen Wirklichkeiten und den unterschiedlichen Sichtweisen auf sie ist im gesamten Roman genauso präsent wie auch bei den Kunststücken der professionellen „Gaukler“, die auf der Bühne mit den Perspektiven auf die Wirklichkeit spielen und die Zuschauer mit Illusionen unterhalten.

Teichmann ist mit diesem Roman ein sorgfältig komponiertes Stück Literatur gelungen, das den/die LeserIn auf so zauberhafte wie nachdrückliche Weise berührt und bis zur letzten Seite fesselt. Dem Charme und der Kunstfertigkeit dieser Profi-Bühnenkünstlerin kann man sich auch auf dem literarischen Parkett nicht entziehen, die detailgetreu beschriebenen Kunststücke laden zur Nachahmung geradezu ein – für das spektakuläre Feuerspucken findet sich daher am Ende des Buches auch der entsprechende Gefahrenhinweis.

Gaukler.
Roman.
Graz: edition keiper, 2017.
224 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-903144-26-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 20.09.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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