Neben minutiöser Textedition und -exegese stehen Überblicksartikel, welche „Die Dämonen“ in größere historische, literatur- und wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge einbetten. Die meisten dieser Beiträge wurden im Jahr 2002 während eines Doderer-Symposiums in Prein an der Rax als Referate gehalten, nun werden sie noch ergänzt durch Rezensionen neuerer Forschungsliteratur und Exposés unpublizierter oder gerade im Entstehen begriffener einschlägiger wissenschaftlicher Arbeiten. Schließlich wird eine aufschlussreiche Debatte dokumentiert, die um die Frage kreist, ob Heimito von Doderer ein Antisemit war oder nicht. Sie wurde in ausführlichen Email-Kontroversen ausgetragen, die in voller Länge im Internet zu finden sind: www.doderer-gesellschaft.org/download.html. Das Buch enthält nur eine – allerdings ausführliche – Auswahl daraus. Sinnvoll abgerundet wird das Ganze durch eine umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur zu den „Dämonen“, die Gerald Sommer, der Herausgeber und mit Abstand eifrigste Beiträger des Bandes, zusammengestellt hat.
Ganz im Sinne Doderers, der seine Romane gerne mit einer Nebenhandlung beginnen ließ, steht am Anfang des Bandes „Gassen und Landschaften“ eine Kuriosität, die für sich betrachtet nicht allzu erheblich ist, aber doch ein bezeichnendes Licht auf Doderers Arbeitsweise wirft: Im September 1953 erschien in der Landshuter „Isar-Post“ der Artikel „Polypen schwimmen durch Kanalanlagen“. Darin wurde berichtet, dass sich in der Kanalisation der brasilianischen Stadt „Bello Horizonte“ Süßwasserkraken eingenistet hätten, die mit enorm kräftigen Fangarmen durch die Kanalisationsgitter hindurch nach den Füßen und Beinen vorbeikommender Passanten griffen. Doderer, den diese Geschichte sehr faszinierte, schrieb daraufhin einen Brief an die „Municipalität“ von „Bello Horizonte“, den er ins Portugiesische übersetzen ließ, und bat darin um genauere Auskünfte über das Krakenproblem. (Dass er dabei den Namen der brasilianischen Stadt so falsch buchstabierte wie die Isar-Post, ist dem Editor Gerald Sommer natürlich nicht entgangen, deshalb setzt er „Bello Horizonte“ immer in Anführungsstriche, während er sich selbst der korrekten Schreibung Belo Horizonte ohne Anführungsstriche befleißigt. So sorgfältig geht es in diesem Band zu.) Doderers Schreiben blieb in Brasilien unbeantwortet, dennoch hielt das Bild der bedrohlichen Kraken, die von unten her ihre Fangarme auswerfen, in die „Dämonen“ Einzug, wie Sommer in seinem Kommentar zeigt.
Auf die Marginalie folgt dann ein höchst bedeutsames Dokument: Doderers „Aide mémoire zu: ‚Die Dämonen der Ostmark'“ aus dem Jahr 1934 wird hier erstmals in philologisch verlässlicher Form veröffentlicht. Dieses kleine Konvolut von unabgeschickten Briefen an einen „lieben Fritz“ – das ist Doderers Freund Fritz Feldner – erzählt in Kurzfassung die Romanhandlung, soweit Doderer sie damals schon überblicken konnte. Deutlicher als im vielstimmigen, weit verzweigten Romanganzen kommt in diesem Exposé die judenfeindliche „Weltanschauung“ des Autors zum Vorschein: Wiewohl Doderer ausdrücklich feststellt, dass es auch „anständige“ Juden wie etwa den Bankdirektor Altschul gebe, redet er doch von der immerwährenden „Rassenkluft“, die zwischen Juden und Ariern herrsche, und die es wieder strenger zu beachten gelte. Er plädiert für eine Scheidung der Lebensbereiche und kritisiert unter anderem „die merkwürdige Neigung vieler Arier für das jüdische Weib“. (Dass Doderer selbst mit der Jüdin Auguste Hasterlik verlobt und kurzzeitig auch verheiratet war, die im Roman unter dem Namen Grete Siebenschein porträtiert wird, kommt in dieser „Gedächtnishilfe“ nicht zur Sprache.)
An der antisemitischen Tendenz dieses „Aide mémoire“ ist nicht zu zweifeln; deshalb entzündet sich der Streit um Doderers Antisemitismus auch nicht an diesem eindeutigen Dokument von 1934, sondern am Roman in seiner Endgestalt des Jahres 1956, als er nicht mehr den ursprünglich konzipierten Titel „Die Dämonen der Ostmark“ trug, sondern schlicht und dostojewskihaft „Die Dämonen“ genannt wurde. (Die ambivalente, zwischen Verehrung und Abgrenzung schwankende Beziehung, die Doderer zu Dostojewski unterhielt, wird übrigens in einem Aufsatz von Eric Chevrel untersucht, der im vorliegenden Band enthalten ist.) In diesen „Dämonen“ der fünfziger Jahre werden die einst als jüdisch identifizierten Figuren nicht mehr eindeutig gebrandmarkt. Auch die zwielichtigste Gestalt des Buches, der Kammerrat Levielle, könnte nach den Auskünften, die der Text über ihn gibt, ein Jude sein – könnte aber ebenso gut auch keiner sein.
Die im Buch dokumentierte Email-Diskussion, die vor allem zwischen Gerald Sommer und dem Wiener Publizisten Robert Schediwy geführt wurde, dreht sich nun um eine so relevante wie brisante Frage: Ist der Roman von 1956 ein zeitgemäß camoufliertes antisemitisches Buch, dem das „Aide mémoire“ von 1934 als „hidden agenda“ zugrunde liegt, wie Schediwy meint, oder nimmt Doderer, wie Sommer entgegnet, in den unbestreitbar subtilen Charakterzeichnungen des Romans seine alte Einteilung in gute Arier und böse Juden diskret zurück? Wie die sehr intensive Debatte zwischen Schediwy, Sommer und anderen zeigt, lassen sich schlüssige Argumente für beide Seiten finden, und schwerlich könnte das anders sein. Ein Roman – zumal einer von Heimito von Doderer – ist eben kein Traktat, sondern ein vielfältiges, reiches Gewebe von Bildern, Situationen und seelischen Zuständen, die der Interpretation bedürftig sind. Deshalb ist nicht in allen Fällen zu entscheiden, ob Schediwy antisemitische Tendenzen in den Text hinein-, oder ob Sommer sie hinausinterpretiert. So viel lässt sich aber wohl sagen: Gerald Sommer nutzt seine bewundernswert souveräne Textkenntnis, um zu zeigen, dass in den meisten kritischen Fällen auch eine nicht-antisemitische Lesart von Doderers Text möglich ist. Schediwy hingegen interessiert sich weniger dafür, wie der Text – bei wohlwollender Auslegung! – verstanden werden könnte, er weist nachdrücklich darauf hin, wie Doderers Roman seinerzeit in Österreich verstanden worden ist. Zu Recht erklärt er, dass sich die Judenfeindlichkeit der Nachkriegszeit meistens nur in verschämten Andeutungen artikulierte, die den Eingeweihten sofort verständlich waren, bei eventueller Kritik jedoch als „nicht so gemeint“ zurückgezogen werden konnten.
Dass Doderers „Dämonen“ mit diesem sozusagen verklemmten Antisemitismus der fünfziger Jahre bestens harmonierten, ist wohl nicht zu bestreiten. Selbst Sommer, der auf „seinen“ Autor nicht leicht etwas kommen lässt, gibt ja zu, dass Doderer „Ressentiments gegen die Juden hatte“, beeilt sich aber hinzuzufügen, dass die Deutschen oder die Tiroler auch nicht besser wegkommen. Da geht der sonst so penible Philologe also ein bisschen zu leichtfertig darüber hinweg, dass zwischen einer nicht näher begründeten Antipathie und einem ideologischen Konstrukt namens „Rassenkluft“ gravierende Unterschiede bestehen. Schediwy trifft den Sachverhalt gewiss richtiger, wenn er den Schriftsteller als einen Antisemiten porträtiert, der sich „in den gleichsam ‚gemütlichen‘ Grenzen“ bewegt, „die in Doderers Kreisen und Zeitgenossenschaft üblich waren.“
Dass mit diesem Verdikt nicht das letzte Wort über Doderer gesprochen sein muss, beweisen die übrigen Aufsätze des Bandes, die den Sprach- und Formkünstler bei der Arbeit beobachten. Sie stehen nicht am Ende des Buches, sondern zwischen dem „Aide mémoire“ und der Antisemitismus-Debatte – als wollten sie die Leser dazu verführen, den Künstler zuerst und dann den Ideologen wahrzunehmen. Und genau das gelingt auch im wesentlichen: Rüdiger Görner stellt die sonst wenig beachtete Lyrik Doderers vor, und versteht sie – all ihrer offenkundigen Mängel ungeachtet – als wichtiges Ferment der Doderischen Kreativität. Wendelin Schmidt-Dengler porträtiert Doderer als Stadtgänger und vergleicht dessen Wien-Impressionen mit denen Schnitzlers und Musils. Reinhold Teml wägt die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede ab, die zwischen den „Dämonen“ und „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos zu bemerken sind, und Torsten Buchholz untersucht das lebhafte philosophische Interesse für Thomas von Aquin, das Doderer – ohne dies zu wissen oder gar zu wollen – mit James Joyce teilte. Vincent Klings Thema ist die Auseinandersetzung des studierten Historikers Doderer mit der Geschichtsschreibung seiner Zeit, und Kai Luehrs-Kaiser widmet sich dem Interesse des Schriftstellers an der Assoziationstechnik der Psychologie, das sich weniger auf Freud als auf dessen heute vergessenen Schüler und Patienten Herman Swoboda richtete. Achim Hölter fragt, welches konservative „Kulturideal“ Doderer dazu veranlasste, den Arbeiter Leonhard Kakabsa just in der Zeit zum Bibliotheksangestellten beim Prinzen Alfons Croix zu befördern, in der die Wiener Arbeiter – in der Realität wie im Roman – Feuer im Wiener Justizpalast legten. Henner Löffler schließlich untersucht den Dämonenglauben Doderers, den man vielleicht am Besten weder ganz ernst, noch ganz unernst nimmt: Dämonen, das waren für Doderer, laut Löffler, all die Kräfte, „die dem Menschen das Eins-Sein mit sich selbst rauben“.
In einem weiteren Teil werden einzelne Motive und literarische Verfahren analysiert: Thomas Petutschnig untersucht Doderers Aufmerksamkeit für hölzerne Gegenstände, Andreas Solbach des Autors subtile Techniken der Beschreibung, und Edit Király geht seiner literarischen Lust am Sammeln nach. So schön wie zutreffend bezeichnet sie Doderer als „Enzyklopädisten der Einzelfälle“. Die Spannung zwischen Stadt- und Landdarstellung wird sowohl von Krzysztof Lipinski als auch von Raymond Voyat zum Thema gemacht, und Yvonne Wolf widmet sich der immer wieder ergiebigen Literaturwissenschaftlerfrage nach der „Erzählerproblematik“.
So verbinden sich Detailblicke mit Betrachtungen des Großen Ganzen und ergeben in der Summe das Porträt eines durchaus faszinierenden Autors, der – möglicherweise sogar gegen seinen Willen – auf der Höhe der Kunst der europäischen Moderne produzierte. Wer diesen Befund mit dem Vorwurf des gemütlichen Antisemitismus nicht in Einklang bringen kann, ist schlecht gerüstet für ein gerechtes Verständnis dieses Autors, wie auch der Literatur des 20. Jahrhunderts überhaupt: Denn dass sich eine psychologisch scharfblickende und sprachkünstlerisch hoch entwickelte Kunst mit äußert fragwürdigen „Weltanschauungen“ verband, war in den Zeiten, die noch gar nicht lange vergangen sind, nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
P.S.: In der Mitte des sorgsam komponierten, ganz und gar studierenswerten Bandes findet sich eine Reihe von Fotografien, die Dietrich Weber, der erste Germanist, der über Doderer dissertierte, in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren in Wien aufgenommen hat. Wiener Schauplätze und Wiener Originale werden hier gezeigt, und mit Zitaten aus Doderers Tagebüchern konfrontiert. Eines der Bilder zeigt den Meister selbst, zusammen mit Frau Weber beim Spaziergang im Grünen. Gekleidet ist er in ein Kurzarmhemd und in die Knickerbockers, die vielen Männern seiner Generation als Inbegriff sportlicher Eleganz galten. Der Text, der diesem Bild beigegeben ist, heißt: „Heute am Morgen Gang auf’s ‚Hameau‘ durch die noch immer unbeschriebenen, weil unbeschreiblichen Schwünge, Durchblicke und Faltenwürfe der Wälder, die zum Teile steil abfallen und ihren Kämmen den Blick in ein anderes Tal freigeben. (Mit Dietrich Weber, einem der Dissertanten, und seiner jungen Frau.)“ Wer selbst in einer belanglosen Tagebucheintragung eine solch komprimierte, anschauliche Sinnlichkeit zu produzieren versteht, sollte der Nachwelt nicht nur als Anhänger bedenklicher Ideologien in Erinnerung bleiben, sondern auch und vor allem als Sprachkünstler höchster Qualität.