#Prosa

Fütter mich

Cornelia Travnicek

// Rezension von Martina Wunderer

„Sie dachte an das Erstaunen der Kinder, dass es ausreichte, einen der großen Granitsteine mit einem Finger zu berühren. Mit einer Kinderhand. Und schon kam alles ins Wanken.“

Cornelia Travniceks Kurzgeschichten erzählen davon, was geschieht, wenn der Boden unter den Füßen brüchig geworden, wenn der Schleier zerrissen ist. Die Welt der Figuren in ihrem neuen Werk, dem Erzählband Fütter mich, ist aus dem Lot geraten. „Wie um die Balance zu halten, strecken sie die Hände aus. Die Wände links und rechts. Die Menschen dahinter.“

Sie kämpfen, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen, das Schlachtfeld ist der Körper, der eigene oder der des Anderen. Jan, das autistische Kind in der Erzählung Im Baum die Elster verschluckt Buntpapier, Büroklammern, Radiergummis und Reißzwecken. Die junge Frau in Secundum Haec versucht ihren existentiellen Hunger in heimlichen Fressorgien zu stillen, „solange bis es ansteht, bis es mir fast wieder hochkommt, bis mir alles wieder rauskommt, die ganze Scheiße.“ Der Erzähler der Titel gebenden Geschichte mästet hingegen seine Freundin, solange, bis sie sich nicht mehr bewegen kann: „Es gibt andere Mädchen, andere wie dich. ‚Alere‘, hast du gesagt, ‚fütter mich!‘ und ich habe dir den Löffel bis in den Hals geschoben und musste dabei an die Gänse denken, die man stopft.“ Anuschka wiederum, die Hungerkünstlerin und Hauptfigur der Erzählung Eklipse, verweigert jegliche Nahrung. Sie fragt sich, „wie lange es dauert, bis ein Mensch stirbt […] Nach wie vielen Tagen ohne Nahrung. Wie viele Tage, bevor man sich von innen heraus verdaut.“

Es ist diese Unschuld, mit der die Figuren sich und andere quälen und töten, die die Faszination der Erzählungen ausmacht, die Faszination des Bösen. Das Gute und das Böse sind nicht klar voneinander geschieden, das eine kann im nächsten Augenblick schon das andere sein. Diese Atmosphäre der Verunsicherung und des Unheimlichen im Alltäglichen ist Travniceks Sprache geschuldet. Sie schreibt eine minimalistische Prosa, klar und lakonisch, doch zugleich geheimnisvoll, in der das Ausgesparte, das Unsagbare mächtiger wird als das geschriebene Wort.

„Ich denke, die Aufgabe eines Kurzgeschichtenautors ist es, alle Kraft daran zu setzen, diese eine Sekunde festzuhalten, in der es geschieht, den Moment, bevor eine Tür für immer zuschlägt, die Sekunde, in der ein Satz nicht ausgesprochen oder nicht zu Ende gesprochen wird. Er muss versuchen zu zeigen, wie die Dinge sein könnten, um daraus zu erklären, weshalb sie sind, wie sie sind“, schreibt Raymond Carver in seinem Essay On writing. Travnicek gelingt es meisterhaft, diese Forderung Carvers einzulösen. Sie zielt nicht auf das Sicht- und auf das Sagbare, sondern auf das Verborgene. Sie wagt sich „[…] dorthin, wo der Boden verschwindet. Dieses Wort aus den Seeräuberbüchern meiner Kindheit. Untiefen. Da, wo nichts mehr ist unter einem. Nur die Ungewissheit.“

Wie Carver lenkt Travnicek den Blick auf jene Abgründe, die sich knapp unterhalb der glatten, doch manchmal erschütterten oder zerbrochenen Oberfläche der Dinge verbergen. Eine zufällige Begegnung, eine kleine Unregelmäßigkeit genügen, und das Unheimliche dringt in den Alltag ein. Und es kommt nicht von Außen, sondern – und das ist das Verstörendste – von innerhalb; wir sind es selbst. In der Erzählung Der Riss im Morgen greift ein stiller, kluger Junge eines Tages nach der Waffe des Vaters und richtet in seiner Schule ein Blutbad an. Und nein, es waren nicht „das Fernsehen, die Videospiele, fehlende Liebe und all das.“ Eine solch vorgefertigte Erklärung ist schnell bei der Hand, sie greift aber zu kurz, wiederholt nur Gemeinplätze. Sie dient nur dazu, den Schrecken des Geschehenen in Worte zu fassen und damit zu bannen.

Travnicek verweigert diese Instrumentalisierung der Sprache, es sind vielmehr die Auslassungen, das Versagen der Sprache, die Dinge selbst, die erzählen. Das Vage, das Tastende, das Rätselhafte wird nicht aufgelöst, sondern bleibt dem Leser aufgegeben. Auch nach wiederholter Lektüre bewahren die Erzählungen ihr Geheimnis, geben sich nicht preis. Und der Leser stellt keine Fragen, er will lieber nicht – er muss auch nicht alles wissen, denn Travnicek zwingt ihn nicht in die Position eines Voyeurs wider Willen. Anders als jene Besucher, die in der Erzählung Alere – Fütter mich am Computer via Livecam und Weblog mitverfolgen, wie der Mann seine Freundin mästet und damit selbst zu Mittätern werden, rückt Travnicek ihren Figuren nicht zu Leibe, sondern wahrt respektvoll Distanz. Die Sparsamkeit ihres Stils hat nicht mit Wortkargheit zu tun, sondern mit Taktgefühl.

So bedrohlich und makaber Travniceks Erzählungen auch sind, sie haben dabei etwas Tröstliches und Ergreifendes. Denn in dem „Verbergen der Geschichte liegt auch Geborgenheit“, so schreibt Judith Hermann über Raymond Carvers Erzählungen, und für jene Travniceks gilt dasselbe. Es ist die Liebe zu den Wörtern, die den Schrecken, der in den Erzählungen lauert, einschließt und bewahrt – weit über die Lektüre hinaus. Wer liest, um kurzweilig unterhalten zu werden, um von sich abzusehen, der sollte Fütter mich daher ungeöffnet beiseite legen. Wer aber liest, um nachhaltig aufgestört und in den Bann gezogen zu werden, dem seien diese eindringlichen Erzählungen dringend empfohlen.

„Wie er mir sagt, dass meine Liebe wahnsinnig wäre. Meine Liebe zu den Wörtern. Wie es nicht reicht. Wie alles auseinanderfällt.“

Fütter mich.
Prosa.
Innsbruck, Wien, Bozen: Skarabaeus, 2009.
120 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7082-3272-0.

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Rezension vom 16.09.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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