#Roman

Fromme Begierden

Michael Amon

// Rezension von Alexander Peer

Für manche Bücher – gerade wenn sie derart lückenlos und ungeschönt in die eigene Kindheit reichen – braucht es Zeit. Viel Zeit musste offenbar auch für Michael Amon vergehen, bis er sich mit Fromme Begierden in eine Kindheit zurück geschrieben hat, die niemandem zu wünschen ist.

 

Es verwundert und es macht wütend zugleich, dass diese Biografien nicht weniger werden, dass sie keine Einzelschicksale sind, dass sie vielmehr etwas Grundsätzliches aussagen über ein Österreich der Nachkriegszeit, in dem Psychopathen Pädagogen sind und im Sadismus ihre einzige Chance sehen, innere Konflikte abzuarbeiten. Opfer dieser fragwürdigen therapeutischen Tätigkeit sind die Schüler des Internats der Neulandschule, einer katholischen Erneuerungsbewegung.
Dass der Text nicht zu einem Abrechnungsplädoyer wird, sondern sich als Aufklärungsarbeit versteht, ist der akribischen Recherche von Amon zu danken. Zwar blitzt immer wieder die gequälte Stimme des Betroffenen auf, das persönliche Leid ist allerdings eingebettet in eine Spurensuche. Dabei werden 20er und 30er Jahre, die Besetzung Österreichs durch der NSDAP und der Zweite Weltkrieg sowie die unmittelbaren Jahre nach dem Krieg mit großer Kenntnis skizziert und als Rahmen des Verstehens konstruiert. Im Mittelpunkt der erniedrigenden Handlungen im Internat in Wien und anlässlich eines Sommeraufenthalts in Bad Ischl stehen zwei Erzieher namens Friedl Menschhorn und „Magdi“ (deren Nachname offenbar nicht eruierbar war). Da dieser Roman den Fakten geschuldet ist, sind diese wie auch alle weiteren Angaben, so weit es dem Schriftsteller möglich war, belegbar. Amon geht es nicht um Abrechnung, sondern um Berichterstattung, ein jedes Pathos meidender, dokumentarischer, oft journalistischer Stil unterstützt dieses Ansinnen.

Neben der Darstellung der Befindlichkeiten als Schüler entwickelt eine zweite Erzählstimme eine zurückhaltende Kommentierung der Ereignisse. Wie heikel die Balance zwischen Wahrhaftigkeit und der Wahrung von Persönlichkeitsrechten ist, ist dem Autor bewusst: Nicht umsonst stellt er seinem Text ein Bekenntnis voran: „Nur wo ich bei Mitzöglingen sehr private und intime Details beschreibe, habe ich die richtigen Namen durch frei erfundene ersetzt.“
Diese Details zeigen einen Internatsalltag voller Repression und Demütigung. Hinter der im Stil vordergründigen Abgeklärtheit Amons wird Bitterkeit deutlich, wenn er etwa schreibt: „Mindestens ein Mal pro Woche stand bei den Ischler Zöglingen Erbrochenes auf dem Speiseplan“ (Fromme Begierden, S. 119). So lautet das Resümee einer quälenden Beschreibung des Quälens, wenn der Hauptpeiniger Friedl einen Schüler wieder und wieder zwingt etwas zu essen, was dieser nicht und nicht behalten kann. Selbstverständlich – muss man wohl sagen – erstrecken sich die Demütigungen auch auf die sexuelle Entwicklung der jungen Menschen.
Bei all den Büchern, die in Österreich in den letzten 30, 40 Jahren erschienen sind und die heimische Pädagogik der 50er bis 70er Jahre thematisieren, muss man sich bange fragen: Warum gibt es in Österreich nicht noch mehr Sexualverbrechen, Suizide oder Selbstverstümmelungen? Österreichische ErzieherInnen haben sich doch redlich darum bemüht!

Michael Amon Fromme Begierden
Autobiographischer Roman.
Wien: Klever, 2011.
216 S.; geb.
ISBN 978-3-902665-31-7.

Rezension vom 08.10.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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