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#Prosa

Friss oder stirb

Barbara Rieger

// Rezension von Florian Dietmaier

Barbara Rieger ist in ihrem zweiten Roman Friss oder stirb ganz nah bei ihrer Protagonistin Anna. Obwohl Anna keine Ich-Erzählerin ist, sieht die Leserin die Welt des Romans mit ihren Augen. Diese Konzentration auf die Protagonistin ist eine erzählerische Notwendigkeit.

Denn Annas Kindheit, ihre Jugend und fast das gesamte erste Jahrzehnt als Erwachsene sind von einer Essstörung, genauer einer Bulimie geprägt. Die psychische Krankheit führt nicht nur zu einer Schilddrüsenunterfunktion, die bei der fünfzehnjährigen Anna festgestellt wird, sondern vor allem zu einem Kreislauf des ständigen Zweifels. „Am schlimmsten“, stellt die zweiundzwanzigjährige Anna fest, sei unter anderem „die Wiederholung […] und dass sie irgendwann, dass sie jetzt, dass sie irgendwann wirklich damit aufhören muss.“ Also mit dem Kreislauf von „fressen und kotzen“, der ihr Leben zweifach beeinträchtigt: Ihren Körper durch die Magensäure, die mit jedem Erbrechen den Schmelz ihrer Zähne angreift, und ihren Geist mit der allzu klar erkennbaren, aber unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen Aufhörenwollen und nicht können.

Vermutlich aus diesem Grund gibt die Autorin Annas Geschichte einen Rahmen. Der Roman beginnt nämlich mit der siebenunddreißigjährigen Anna, die ihre Essstörung überwunden hat: „Anna hat angefangen abzunehmen, als sie aufgehört hat, abnehmen zu wollen, aufgehört hat zu hungern, aufgehört hat darüber nachzudenken, was sie essen soll, angefangen hat zu essen, was immer sie will.“

So erinnert sie sich im ersten Kapitel und hält fest, dass „das Leben […] keine Romane“ schreibt. Das denkt sie mit Blick auf die Tagebücher aus der Zeit ihrer Essstörung, die sie in einer Bananenkiste verstaut hat. Sie will die Kiste aus einem Regal holen, doch ihr Inhalt macht sie zu schwer. Ein prägnantes Bild. Nein, ein Leben, auch wenn es im Moment des Erlebens oder kurz danach in Tagebucheinträgen komprimiert wurde, schreibt keine Romane. Anna kann die Kiste nur auf den Boden fallen lassen und mit den Füßen in die Mitte des Raumes schieben, wo sie das erste Tagebuch herauszieht.

Chronologisch, wie die Kapitelüberschriften zeigen, arbeitet sich Anna von ihrem vierzehnten bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahr durch die Tagebücher. Anhand einer selektiven Auswahl aus den Einträgen und durch die Erinnerungen, die das Lesen evoziert, ordnet Anna ihr Leben dann doch zu einem Roman. Mit der sich erinnernden älteren Anna durchbricht Rieger den Kreislauf, in dem die jüngere Anna gefangen ist, und beide, Anna und der Kreislauf, treten deutlich zu Tage.

Als eine Art Informationstafel stellt Rieger an den Anfang jedes Kapitels eine zum Lebensjahr passende Musikempfehlung. Bis zum letzten Kapitel entsteht so eine Playlist, oder mit Annas Worten ein „Mixtape“ aus zwölf Songs und drei Alben. Die Musik dient aber nicht bloß als extradiegetischer Soundtrack des Romans, denn Anna setzt sich mit den Texten auseinander, bezieht sie auf sich und ihre Situation.

Im ersten Kapitel erklingt etwa This is the last time von The National. Vielleicht hört Anna den Song beim Herausziehen der Bananenkiste oder sie erinnert sich an den Text. Auf jeden Fall liefert ihr der Text Anhaltspunkte zu einer Blaupause für den Roman ihres Lebens: „zu psychologisierend [Kursive Hervorhebungen im Original], werdet ihr sagen, denkt Anna, denkt sie, das problemlose Mädchen, I won’t be waitin‘ anymore, die Strebsame, der Star und die Außenseiterin, I won’t be vacant anymore, alles, was sie über Hunger weiß, denkt Anna, I wish everybody knew„.

Diese von Anna gedachte direkte Anrede eines ‚ihr‘ kommt nur in diesem ersten Kapitel vor. Sie könnte die potentielle Leserin des Romans meinen, aber auch Annas Mutter, ihre Ernährungsberaterin, ihre Therapeutin, ihre Freundinnen oder ihre Liebhaber. Egal wen sie meint; rechtfertigen muss sich Anna nicht, denn der Roman muss natürlich psychologisierend sein. Schließlich sind es ihre Tagebücher, die sie früher geschrieben hat, die sie jetzt liest und interpretiert. In der erinnernden Lektüre analysiert sie sich und die möglichen Auslöser und Auswirkungen ihrer Bulimie, der Ess-Brechsucht, und wie diese mit ihren anderen Süchten, etwa nach Sex und Drogen, zusammenhängt. Sie muss nicht mehr warten, dass andere sie verstehen. Sie, die ältere Anna, hat sich verstanden und lässt es alle wissen. Und gestützt durch ihre Tagebucheinträge ist sie im erinnernden Erzählen auch niemals ‚vacant‚, sondern stets präsent.

Auch in den frühesten Erinnerungen, also schon im zweiten Kapitel. Hier hört sie als Vierzehnjährige Nirvanas Nevermind: „I hate myself and I want to die, schreibt Anna in ihr Tagebuch.“ Das Nirvana-Zitat relativiert sie aber im selben Eintrag (und stellt sich damit schon damals gegen das ‚abwesend‘ sein): „ich will nicht sterben, ich will anders sein„. So anders wie Kurt, den sie bald nach dieser Selbsterkenntnis kennenlernt. Kurt raucht, trinkt, trägt zerrissene Hosen und sieht auch noch so aus wie Kurt Cobain. Sie verliebt sich sofort in ihn.

„‚Mit Kurt hat alles angefangen‘, hatte die Mutter immer behauptet“, wie sich Anna im ersten Kapitel erinnert. Während ihre Therapeutin meint, dass ‚es‘, die Bulimie, in Annas Kindheit ihren Anfang genommen habe.

Für ihre Kindheit hat sie aber keine Tagebucheinträge. Erst ab der Zeit mit Kurt. Die Mutter hat nicht recht: Angefangen hat es nicht mit Kurt, aber diese erste Beziehung hing bereits eng mit dem Essen zusammen: Vor einem Wiedersehen, „nimmt sie sich vor, […] nichts mehr zu essen.“ Als sie gemeinsam mit Kurt einen Joint raucht, Hunger bekommt und ein Stück Schokolade isst, denkt sie: „Nie wieder ein Stück, […], ein Stück noch, denkt sie, nur noch ein Stück.“ Vor einem anderen Treffen isst sie den ganzen Tag nichts. Nach Bier und Joints auf einer Wiese gehen sie „durch die Fußgängerzone, ein Kopfhörer in ihrem, ein Kopfhörer in seinem Ohr, sie spürt den Boden nicht mehr, sie schwebt, sie spürt die Arme nicht mehr, die Beine, nur mehr die Mitte, den Magen.“ Sie kann es nicht mehr zurückhalten und erbricht sich in einen Mülleimer. Nach diesem Treffen will sie weiter abnehmen, wiegt sich, verzweifelt am wochenlang gleichbleibendem Gewicht und macht umso beflissener die „Übungen aus dem Buch, das die Mutter ihr geschenkt hat. Schlank und schön, liest Anna auf dem Einband“.

Hat es mit ihrer Mutter angefangen? Mit ihr versteht sie sich kaum, weil sie Annas Krankheit nicht versteht und alles auf die Schilddrüsenunterfunktion schiebt: „‚Das ist die Schilddrüse‘, sagt die Mutter ab jetzt, wenn sie bemerkt, dass es Anna nicht gut geht.“

Leute, die sie verstehen, sucht Anna vielleicht deshalb nicht in ihrem Familien- oder Freundeskreis oder später unter ihren Geliebten. Als Siebzehnjährige geht Anna etwa zu einer Diätberaterin, mit der sie „eine Liste von Dingen schreibt, die ihr guttun, die Gefühle aufschreiben, schreibt Anna, […], mit jemandem reden, der mich versteht„. Ebenfalls als Siebzehnjährige tritt sie einem „Form für Magersucht, Forum für Bulimie, Forum für Esssucht“ bei.

Doch auch wenn sie jemanden gefunden hat, der sie verstehen könnte, hindert sie das Im-Kreis-Laufen daran, sich verstehen zu lassen. Die Diätberaterin habe etwa „keine verdammte Ahnung“, wie Anna denkt. Und erst als Neunzehnjährige schreibt sie „ihren ersten Eintrag ins Selbsthilfeforum“. Direkt davor hat sie sich ihr Im-Kreis-Laufen aber schon bewusst gemacht: „wenn sie wirklich will, dann schafft sie es, sie muss nur wirklich wollen, denkt Anna und nimmt sich zum tausendsten Mal vor dagegen anzukämpfen, nimmt sich vor, etwas dagegen zu tun.“ Das Forum rät ihr zu einer Therapie, die Anna später auch wirklich antritt. Und die ihr noch später, wie Rieger das Ende im ersten Kapitel ja schon vorwegnimmt, helfen wird. Dass Anna ‚wirklich will‘, wird daraus ersichtlich, dass sie bei ihrer Therapeutin bleibt, denn die „hat die gleiche Figur wie die Mutter, die gleiche Frisur, den gleichen prüfenden Blick.“

Barbara Rieger gelingt es in Friss oder stirb, das psychische Leiden von Anna, den scheinbar unaufhaltbaren Kreislauf ihrer Bulimie in ausdrucksstarken Bildern festzuhalten, ohne ihre Protagonistin je bloßzustellen. Stattdessen stellt sie Annas Durchhaltevermögen oder besser ihren Durchhaltewillen aus und feiert sie am wirklichen Ende, im letzten Kapitel mit einem schönen Bild, das keiner Musikuntermalung und auch keines Rahmens mehr bedarf.

Friss oder stirb.
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2020.
224 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-218-01228-7.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 17.08.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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