#Roman
#Prosa

Fremdes Licht

Michael Stavaric

// Rezension von Erkan Osmanovic

Vom Licht geblendet, aufgedreht wie ein Teufel

„Ich blickte es genauer an, das Ding erinnerte mich an eine Mischung aus Eisbär und Fabelwesen, und wer weiß, vielleicht war im Bauch der Schwester etwas gehörig schiefgegangen, vielleicht handelte es sich auch nur um eine heimische Spezies, ein Tier, das mittlerweile zur normalen Fauna des Planeten zählte, ich wusste doch nichts über Winterthur. Ich überlegte sogar, ob es sich nicht um jenen Inuit-Jäger handeln könnte, dessen Geschichte weiter in meinem Kopf herumgeisterte, der sich bekanntlich mit seinem Schlitten über Grönland verteilte – ein unsterbliches Polargeschöpf, verflucht und auf Erlösung hoffend.“

Elaines Welt: Schnee, Eis, Frost. Sie ist gestrandet auf Winterthur. Seit wann sie hier ist? Unklar. Wie sie den Absturz überlebte? Unbekannt. Doch halt, von was für einen Absturz reden wir hier? In Elaines Kopf bahnen sich Bilder ihren Weg:

„Ich sah, dabei zu, wie der Schatten des Kometen die Erde verfinsterte, wie sich eine undurchdringliche Finsternis unaufhaltsam ausbreitete, und ich beschloss, mich nicht mehr umzublicken. Ich fühlte förmlich, wie wir über die Köpfe der zurückgebliebenen Menschen hinwegrasten, die unserem Flugschiff verzweifelt nachriefen, gewiss standen überall alle Fenster und Türen offen, wie es in Häusern, die auf ein großes Unglück warten, zu sein pflegt. Unser Flugschiff machte sich auf in die kalten Weiten, und ich schwebte nunmehr in eine neue Einöde davon, in der sich schwarzer Kosmos und dunkles Chaos ununterscheidbar vereinigten.“

Michael Stavaric bringt uns in Fremdes Licht in die Weiten des Alls, in eine ferne Zukunft, aber auch in die Welt der Inuit und die „Weiße Stadt“, das Areal der Weltausstellung 1893 in Chicago. Dreh- und Angelpunkt sind die Geschichten zweier Frauen: Elaine und Uki. In „Winterthur und das Ende der Welt“, dem ersten Teil des Buches, blicken wir durch die Augen Elaines. Ihr Flugschiff wird zur modernen Arche. An Bord sind (vom Zufall) auserwählte Reisende, Massen an Daten- und Genmaterial von Pflanzen, Lebewesen und Nahrungsmitteln und die „Sarkophage“. So heißen Schlafkokons, die ihre BenutzerInnen in einen Kälteschlaf versetzen, der sie für die mehrere Jahrzehnte dauernde Odyssee unsterblich macht.

Unsterblichkeit durch Technik? Das klingt nach Science-Fiction. Und damit liegt man auch gar nicht so falsch, denn die Welt, in die uns Elaines Erinnerungen mitnehmen, ist geprägt von Technisierung und Digitalisierung. Die Menschheit erschafft modifizierte Klone, das Bewusstsein Verstorbener wird in Quantencomputer hochgeladen und auch die Waffenarsenale zeigen ein neues Maß an Zerstörungskraft:

„Der Erste Lichtkrieg beeinträchtigte in der Tat die gesamte Welt, alles geriet aus den Fugen, und der Himmel stand drei volle Jahre in Flammen. Man benötigte Spezialbrillen, um hinaufsehen zu können, viele Menschen verloren schlussendlich ihr Augenlicht oder hatten sonstige Beeinträchtigungen, Achromatopsie hieß nur eine davon.“

Nach 15 Millionen Toten, einer Generation von Erblindeten, kam es dann auch zum Zweiten Lichtkrieg, der aber im Gegensatz zum Ersten nicht nur in der Luft stattfand, sondern die gesamte Erde bedeckte:

„Im Zweiten Lichtkrieg kam es schlimmer, neue, fortschrittlichere Waffen wurden eingesetzt, der Himmel selbst war allerdings nicht mehr hell erleuchtet, dafür blieb es brütend heiß, man bekämpfte einander mit Plasma und Blitzen, ein für alle Mal sollten die Dinge geklärt werden, die Vorherrschaft manchen Regierungskonzerns stand auf dem Prüfstand. Die Hitze selbst ließ sich nicht so gut in Geschichten verpacken, die Luft kochte förmlich in etlichen Gegenden, und viele Eisgebiete der Erde schmolzen ab, es war allerdings nichts im Vergleich zum ohnedies vorangeschrittenen Klimawandel.“

Die Spannung zwischen Mensch und Natur ist es auch, die den gesamten Roman durchzieht. Elaine Duval, so ihr vollständiger Name, wurde im Jahr 2345 geboren und war als Genforscherin an der Entwicklung eines Klonprogrammes beteiligt, gleichzeitig spürte sie ein Verlangen nach der Welt der Abgeschiedenheit:

„Einer der Vorteile von Winterthur war, dass sich die Bergketten gleich an das penibel abgeschirmte Fabrikgelände des Konzerns reihten. Ich erkundete an den Wochenenden die angrenzenden Täler und verschneiten Gipfel, stellte mir dabei vor, ich wäre irgendwo in Grönland, mit dem Großvater, der eben erst hinter der nächsten Biegung verschwunden war.“

Elaines Großvater war noch während ihrer Kindheit nach Grönland übersiedelt, wo einst seine Mutter und alle Vorfahren lebten. Sie waren „Tunumiit“, Ostgrönländer, die sich einer äußerst traditionellen Lebensweise verschrieben hatten. Hierher gehört auch die Geschichte der Vorfahrin Uki, die im zweiten Teil des Buches unter dem Titel „Grönland und die Weiße Stadt“ erzählt wird.

Uki kommt als junge Frau in Kontakt mit einer neuen Welt, als eines Tages ein Expeditionsschiff in ihrer Bucht anlegt. „Uki“, das „Winterkind“ („ukiutaq“), zeigt sich beeindruckt von den Menschen aus dem Westen und noch mehr von all den magischen Geräten, die sie mit sich führen. Mechanische Spatzen und Singvogelspieldosen ziehen Uki in ihren Bann:

„Sie waren überaus kostbar und begehrt, nur die wenigsten konnten sich diese Werke leisten. Der Vogelmann hatte den Spielautomaten von seiner Frau Elaine erhalten, diese stammte aus einem guten Hause und verwöhnte ihn, wo es nur ging; mir fiel auf, dass seine Miene, wann immer er von ihr sprach, einen verklärten Ausdruck bekam. Später wollte ich von ihm wissen, ob er sie nicht sehr vermisse, und er erwiderte, dass sie immer mit ihm sei, allein schon der Vogelkäfig würde ihn täglich an sie erinnern und dafür Sorge tragen, dass er zu ihr zurückkehre.“

Aber auch Uki sorgt dafür, dass der „Vogelmann“, wie sie ihn wegen seiner mechanischen Spatzen nennt, seine Frau Elaine nicht vergisst, denn sie schaut ihr zum Verwechseln ähnlich. Über die Zeit entwickelt sich zwischen den beiden eine Freundschaft. Fridtjof Nansen, so der Name des „Vogelmanns“, bringt Uki in Kontakt mit einer anderen Welt, anderen Geschichten und neuem Wissen. Stavaric gelingt es, den historischen Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Nansen derart zu fiktionalisieren, dass er sich widerstandslos in die Geschichte einfügt. Schließlich macht Uki sich nach dem Abschluss einer Schamanenprüfung gemeinsam mit Nansens Mannschaft auf den Weg nach New York, um dann weiter in die „Weiße Stadt“ zu ziehen.

Fremdes Licht – das ist nicht nur der Titel des Romans, sondern auch das bestimmende Motiv des Buches. In Elaines dystopischer Zukunft ist Licht nur mehr künstlich, zerstörerisch und gefährlich. Dagegen ist Ukis Leben durch das Flackern des „qulliq“ geprägt:

„Lange Zeit galt die aus bearbeitetem Speckstein bestehende Schale als eines der wichtigsten Besitztümer, die man sein Eigen nennen durfte. Man verbrannte dort das Fett diverser Land- und Seesäugetiere, früher war es nur so möglich, etwas Licht und Wärme zu gewinnen, abgesehen davon, dass sich so Speisen an- und aufwärmen ließen.“

Das fremde Licht zeigt sich auch im Aufbau und der Sprache des Romans. Denn während sich Elaines Geschichte aus Fragmenten ihrer Erdenvergangenheit, der Zeit am Flugschiff und dem Dasein auf Winterthur zusammensetzt, wird Ukis Abenteuer einerseits durch ihre Stimme, andererseits durch Tagebucheinträge Nansens erzählt. Diese Perspektivenwechsel geben dem Geschehen eine besondere Qualität und die eingestreuten Worte und Wendungen aus dem Inuktitut tun ihr übriges, um den Roman auch sprachlich erfrischend zu machen:

„Sila, sila, sila, uugituna nigivik naluvlugu, sila, sila, sila, uugituna imaq naluvlugu, sila, sila, sila (…) summte und pfiff ich mir ein Lied, das ich zum ersten Mal bei Großvaters Nachbarn gehört hatte, allerdings war mir nie aufgefallen, wie traurig es klang. Das Wetter, Wetter, Donnerwetter, es missfällt mir so sehr, ich find keine Nahrung, es missfällt mir so sehr, das Wetter, Wetter, Donnerwetter.“

Wo Licht, da auch Schatten. Die Zukunft steht ganz im Zeichen potentieller Unsterblichkeit, gleichzeitig grassieren auch Ängste vergangener Tage. So bestimmt etwa die „Taphophobie“, die Angst als Scheintoter begraben zu werden, den Umgang mit dem eigenen Sterben.

In Elaines Rückblenden zeigt das Bestattungsritual ihres Großvaters an ganz anderes Bild. Der Tod wird hier nicht bekämpft oder gefürchtet, sondern akzeptiert, ja, gar gewürdigt:

„Unmittelbar nachdem der Großvater verstorben war, hatten die Inuit in einer feierlichen Zeremonie seinen Brustkorb geöffnet, man hatte gemeinsam ein paar Lieder gesummt und behutsam das Herz freigelegt. Alle, die sich eingefunden hatten, rochen nacheinander daran und nickten, es war ihre Art, sich von einem Jäger zu verabschieden. Ich, als nächste Angehörige, durfte Großvaters Herz berühren, ein ganz sachtes Anstupsen nur, das einen roten Punkt auf einer der Fingerkuppen hinterließ.“

Ukis und Elaines Geschichten kreisen aber auch um die Möglichkeit, sich der Natur, den Naturgesetzen und gesellschaftlichen Normen zu widersetzen oder diese gar zu missachten. Denn nicht nur die zukünftigen Auswüchse der Technik, wie die Plasmageschosse der „Lichtkriege“ und kryonische Kapseln, machen klar, dass es dem Wesen einiger Menschen entspricht, nicht nur die Natur besser zu verstehen, sondern diese auch beherrschen zu wollen.

So lässt etwa die Wechselstrom-Vorführung von Nikola Tesla, die Uki während der Weltausstellung in Chicago besucht, erahnen, dass Elektrizität in den falschen Händen zu einer Bedrohung werden könnte:

„Die Maschine, vor der Tesla stand, nannte sich Transformator, sie war gut fünfzehn Meter lang und drei Meter hoch. Alles Licht in der Halle wurde plötzlich ausgemacht, und man blickte gespannt zur Kugel hoch, darüber befand sich ein gräulicher Himmel mit weißen Wolken. Tesla brüllte seinem Mitarbeiter zu, jetzt, Schalter umlegen, und ein bläuliches Licht erschien daraufhin wie aus dem Nichts, es kletterte den Mast hoch, die Kugel an dessen Spitze knisterte, und mit einem Male, ohne sich weiter irgendwie anzukündigen, donnerte ein gewaltiger Blitz in den Himmel, er schien nahezu die Wolken zu teilen. Danach schossen noch weitere Blitze empor, es war fast wie bei einem Gewitter, nur entschied der Mensch darüber, wann es losbrechen und wann es aufhören musste.“

Die Handlungen der beiden Geschichten sind mitreißend. Michael Stavaric erzählt meisterhaft. In Fremdes Licht trifft Realität auf Fiktion, Optimismus auf Melancholie und Leben auf Tod. Das Buch berührt nicht nur, es rüttelt auf. Man sehnt sich nach der Naturverbundenheit der Inuit, erschrickt vor den Erfindungen der Zukunft und nimmt seine Umwelt viel intensiver wahr. Nach der Lektüre des Buches ist keine Straßenbahnfahrt, keine Glühbirne, ja, kein Kerzenschein mehr selbstverständlich. Das Bekannte ist plötzlich fremd und regt zum Nachdenken und Entdecken an.

Fremdes Licht.
Roman.
München: Luchterhand Literatur Verlag, 2020.
512 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-630-87551-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 29.09.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.