#Roman

Fremdes Land

Thomas Sautner

// Rezension von Martina Wunderer

Man ist, was man isst, lautet ein gängiges Sprichwort.
In Thomas Sautners Zukunfts-Roman Fremdes Land sind Lebensmittel „sicherer und gesünder als früher. Auch kalorienärmer, billiger, moralischer, länger haltbar, intensiver, besser, wertvoller.“ So auch der Mensch: Tabak und Alkohol sind verboten, außerdem zucker- und fetthaltige Speisen, Filme pornographischen oder gewalttätigen Inhalts, gefährliche Sportarten, Unfreundlichkeit, Depression und Phantasie.

Staatlich oktroyiert dagegen sind Idealgewicht, Fitness und moralisches Handeln. Verstöße ziehen Verwarnungen, Abmahnungen und letztlich strengste Sanktionen nach sich. Als Gegenleistung für bürgerlichen Gehorsam garantiert der Staat Fürsorge und Sicherheit: „Aktion Caring Mom – Schutz, Wärme und Geborgenheit in einer gefährlichen, gefühlskalten Zeit“, lautet die Propaganda der neuen Regierung, der Sautners Hauptfigur Jack Blind als rechte Hand des Präsidenten Mike Forell angehört. Der strikte Konformist Jack ist überzeugt, dass Dissens und Individualität ein Übel seien und arbeitet an Strategien, diese endgültig auszumerzen.

In der Tradition literarischer Dystopien wie George Orwells 1984 oder Aldous Huxleys Brave New World beschreibt Thomas Sautner scharfzüngig eine fiktive Gesellschaft in einer nicht näher verorteten Zukunft. Charakteristisch für diese Gattung der Anti-Utopie ist der Entwurf einer autoritären oder totalitären Herrschaftsform, ausgestattet mit einer allumfassenden repressiven sozialen Kontrollfunktion: Big Brother is watching you.

In Sautners Roman setzt der technologisch hochentwickelte Staat die ihm zur Verfügung stehenden Informationen aus ausgeklügelten Überwachungsapparaten nicht nur ein, um nachträglich Gesetzesverstöße zu ahnden oder geheimdienstliches Wissen zu gewinnen, sondern er nutzt sie darüber hinaus, um deviantes Verhalten von vornherein zu verhindern. Diese präventive Strategie soll durch die Einpflanzung eines „Fit&Secure-Chips“ in die Schläfen der Bürger perfektioniert werden. So sollen nicht nur gefährliche Gedanken und abweichende Ideen rechtzeitig erkannt werden, sodass die betreffenden Personen aus dem Verkehr gezogen werden können, es soll sogar möglich sein, ihre Gedankengänge im Sinne des Staates positiv zu beeinflussen und sie zu vorbildlichen Staatsbürgern, Arbeitskräften und Konsumenten zu erziehen. Das Individuum soll auf diese Weise – zu seinem eigenen und zum Wohle der Allgemeinheit, und mit seinem Einverständnis – entmündigt werden.

„Ich habe den Traum, dass ich (…) es besser mache für das Land und die Menschen,“ erklärt Jack zu Beginn des Romans seiner skeptischen Schwester Gwendolyn, die – selbstverständlich ohne sein Wissen – im Widerstand aktiv ist. Doch tatsächlich, so muss er sich eingestehen, wollte er es keineswegs „für das Land und seine Menschen besser (…) machen. Sein Traum war: zu jener Handvoll Menschen gehören, die das Land regieren.“ Dieser unbedingte Wille zur Macht auch um den Preis der Selbstverleugnung und der Verabschiedung der eigenen Ideale zeichnet Jack aus und führt ihn letztlich zum Erfolg. Als Stabschef der neuen Regierung wähnt er sich an den Hebeln der Macht. In Wahrheit aber wird er zur Spielfigur in einem System, das den Einzelnen nur mehr in seiner Rolle als Konsumenten ernst nimmt. Die Politik ist längst abhängig von der Wirtschaft, eine Marionette der fünf großen Konzerne, die den Weltmarkt beherrschen. Um mit maximaler Effizienz und Kapazität arbeiten zu können, instrumentalisieren sie Regierung und Presse. Das Geld regiert die Welt.

„Erkennst du noch immer nicht, dass wir in einer Diktatur leben, einer Diktatur, die uns das Leben nimmt, das Ich? Die uns nur vegetieren lässt, wenn wir uns anpassen bis zur Unkenntlichkeit“, versucht Gwendolyn dem Bruder die Augen zu öffnen. Doch Jack hält an der herrschenden Politik fest und versagt sich jeden Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit – bis er selbst unter die Räder kommt und die Willkür des vermeintlichen Rechtsstaats am eigenen Leib zu spüren bekommt.

„Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ Dieses Goethe-Zitat ist als Motto dem Roman vorangestellt. Am Ende des Buches angelangt klingt es dem Leser wie eine Warnung in den Ohren. Denn was auf den ersten Seiten wie ein Science-Fiction-Szenario anmutet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als gar nicht weit hergeholt. Das fremde Land ist unheimlich vertraut: „Arme heben, Gürtel lösen, Schuhe ausziehen, Körper befummeln und die ganze Kleidung durchleuchten lassen, eine Stunde vor der Landung sitzen bleiben, nicht mehr auf die Toilette und nicht mehr ans Handgepäck dürfen, Passagierflugzeuge abschießen. Wenn uns das jemand vor 20 Jahren erzählt hätte, hätten wir ihn für verrückt erklärt. So etwas würden sich Millionen Flugpassagiere niemals gefallen lassen, hätten wir ihm mit einem Fingerzeig an die Stirn erklärt“, fasst der Journalist, Schriftsteller und Filmautor Gerhard Wisnewski die gegenwärtige Entwicklung zusammen. An ihrem nicht allzu fernen Ende steht der gläserne Mensch als Antipode zur Privatperson. Und in diesem Licht besehen erscheint Thomas Sautners Roman nicht mehr als phantastische Zukunftsvision, sondern als hochaktueller Beitrag zur allgegenwärtigen Debatte um Datenschutz.

Eben diese Verortung der Handlung in unserem alltäglichen Erfahrungshorizont macht die Stärke des sprachlich eher hölzernen Buches aus. Dass der Leser die Muster oder Trends identifizieren kann, die unsere heutige Gesellschaft potentiell in Sautners Fremdes Land führen könnten, macht die Beschäftigung mit der Fiktion zu einer fesselnden und wirkungsvollen Erfahrung.

Thomas Sautner Fremdes Land
Roman.
Berlin: Aufbau, 2010.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-351-03324-8.

Rezension vom 22.09.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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