#Roman

Fremde Seele, dunkler Wald

Reinhard Kaiser-Mühlecker

// Rezension von Angelo Algieri

„Gerücht ist eine Pfeife, / Die Argwohn, Eifersucht, Vermutung bläst“, liest man bei Shakespeare in König Heinrich IV.
Solch ein roter „Gerüchte“-Faden durchzieht Reinhard Kaiser-Mühleckers neuen Roman Fremde Seele, dunkler Wald, erschienen im Frankfurter S. Fischer Verlag. Wie die ersten Bücher „Der lange Gang über die Stationen“ (2008) und „Magdalenaberg“ (2009) spielt dieser Roman meist in Oberösterreich, bei Kirchdorf an der Krems, dem Herkunftsort des Schriftstellers, auch wenn er nie explizit genannt ist. Im Mittelpunkt des Textes stehen zwei Brüder: Alexander und Jakob Fischer. Der ältere Bruder, Alexander, Anfang zwanzig, erholt sich bei seinen Eltern von einem Reitunfall im Kosovo, wo er als Soldat stationiert ist. Während Jakob, etwa 15 Jahre alt, gerade seine Schule abgeschlossen hat und auf dem Bauernhof der Eltern arbeitet.

Alexander fällt bald die Decke auf den Kopf, so dass er seine Zeit im Wirtshaus des Ortes verbringt. Er nimmt Jakob zwar mit, doch dieser scheint sich für die Geschichten seines Bruders überhaupt nicht zu interessieren. Anzeichen, dass Jakob erwachsen wird?, fragt sich Alexander. Hat ihm etwa ein Mädchen den Kopf verdreht?
Tatsächlich besucht Jakob seit einiger Zeit Nina, in die er zwar nicht verliebt ist, bei der er aber doch übernachtet. Eines Tages informiert Nina ihn, dass sie schwanger sei. Von wem, erfahren wir nicht. Vielleicht von Markus, mit dem sich Jakob eng angefreundet hat. Die beiden jungen Männer können zwar über alles reden, aber nicht über ihre Dreiecksbeziehung. War Markus mit Nina zusammen oder ist er es immer noch? Dennoch übernimmt Jakob Verantwortung: Nina und er ziehen in eine gemeinsame Wohnung und Jakob findet einen Job beim Maschinenring und verdient gutes Geld. Doch mit Markus trifft er sich nicht mehr. Zu unangenehm, dass er offiziell mit Nina zusammen ist. Nina gebärt ein Kind und ist glücklich, Jakob hingegen erfassen Traurigkeit, Ekel und innere Wut, so dass er ein Mal das Kind gegen die Wand werfen will, als dieses nicht aufhört zu schreien. Geschieht das aus unterdrückter Wut, weil das Kind wohl kaum von ihm stammt?
Völlig verzweifelt sehnt sich Jakob nach Markus und geht in die Kneipe, wo dieser häufig anzutreffen ist. Markus sitzt dort bei einigen Freunden und bemerkt Jakob nicht. Jakob möchte ihn später abfangen, verpasst ihn jedoch – er hört nur noch, wie Markus sein Auto startet und losfährt. Entgangene Chance im doppelten Sinne. Denn Markus wird am darauffolgenden Tag erhängt gefunden: Suizid.
Bald besagt ein Gerücht, dass Jakob an dem Abend in Markus‘ Wohnung gewesen sei. Wollten sich beide umbringen (ein zweiter Strick wurde gefunden) und hat Jakob kalte Füße bekommen? Oder hat Jakob seinen Freund ermordet und es so aussehen lassen, als ob Markus Selbstmord begangen habe? Für Jakob hat dieses Gerücht harte Konsequenzen: Nina bezichtigt ihn des Verbrechens und trennt sich von ihm. Er verliert unvermittelt seine Arbeit beim Maschinenring. Des Weiteren glauben ihm auch die Eltern nicht, bei denen er wieder wohnt. Wie soll es nun weiter gehen? Welche Zukunftsperspektive hat Jakob überhaupt noch? Wer gibt ihm Halt?

Im anderen Erzählstrang folgen wir Alexander, der wieder im Kosovo seinen Dienst antritt. Er geht nicht nur wieder reiten, sondern setzt seine Affäre mit der Tochter des Stallbesitzers fort, bis sie nach Neujahr ein jähes Ende findet. Alexander wird es bald langweilig und er bewirbt sich um eine Stelle im Verteidigungsministerium in Wien. Mit der Frau seines neuen Vorgesetzten fängt er eine Affäre an. Allerdings muss er sich diesmal eingestehen, verliebt zu sein. Doch wie aus diesem Dilemma herauskommen? Werden diese zwei ein Paar?
Alexander verfolgt gleichzeitig sehr aufmerksam einen Fall, der den Herkunftsort in Oberösterreich arg erschüttert. Ein junger Mann hat einer Frau mit einer Axt den Kopf abgehackt. Das verstörende: Es gibt scheinbar kein Motiv. Gut, der Mann wird verurteilt. Allerdings wird der Prozess wieder aufgerollt. Ein Zeuge hat sich gemeldet. Doch dieser verstrickt sich bald in Widersprüche, so dass er den Täter nicht entlasten kann. Alexander interessiert sich für diesen Zeugen und sucht ihn auf – erfährt er die Wahrheit? Oder gibt es Anlass für weitere Gerüchte.
Und um genau diesen Zwiespalt zwischen Wahrheit und Gerücht geht es hauptsächlich im Roman. Zum einen zeigt uns Reinhard Kaiser-Mühlecker, wie ein Gerücht jemandem sozial das Genick brechen kann – wie im Fall von Jakob. Zum anderen kann man sich des Gerüchts auch bedienen, um festzustellen, welche Wahrheit dahinterstecken könnte, wie Alexander dies tut.
Beeindruckend ist auch der Aspekt, wie die Kommunikation zwischen den Eltern und Jakob verläuft. Als etwa Jakob nach der Trennung von Nina zurück auf den Hof zieht, fragen die Eltern überhaupt nicht, was geschehen sei. Das Gerücht ist vorher da, auch wenn sich Jakob klärende Gespräche mit den Eltern wünscht. Allerdings tut er es ihnen nach. So gärt das Schweigen und destilliert in Vermutungen und Spekulationen.
Dieses Hauptthema wird durch die Sprache verstärkt. Zum einen bewirkt der karge, nüchterne und präzise Stil, dass wir Leser die Version der Brüder glauben. Doch ist dieser fast protokollarische Stil ein Indiz? Steht Kargheit für das wahre Geschehen? Und noch etwas fällt auf: Trotz aller Nüchternheit erfahren wir nicht alles, einiges wird ausgespart, bleibt im Vagen, Informationen werden vom Erzähler zurückgehalten.

Folglich sind wir Leser gezwungen eigene Spekulationen anzustellen. Mischen wir somit unwillkürlich an der Gerüchteküche mit? Etwa über das Verhältnis zwischen Markus und Jakob. Sieht Jakob in Markus nur einen Seelenverwandten, mit dem er die Todessehnsucht teilt? Oder sind gar beide ineinander verliebt? Und können mit ihrer Homosexualität nicht umgehen, sie gar nicht benennen? Der folgende Satz legt den Schluss nahe: „Die Mädchen rannten Markus hinterher, aber hatte man ihn je mit einer gesehen, hatte er je ernsthaft von einer erzählt?“ Sah deshalb Markus nur den suizidalen Ausweg, da er dem Ort nicht entfliehen konnte? Zu groß die Angst vor Gerüchten, Hohn und Spott?
Ein weiteres Thema dieser Story: Beide Brüder suchen Halt. Und immer wenn sie glauben, dass sie ihn gefunden haben, kommt ein Ereignis, das ihre Welt wieder aus den Fugen hebt. Sie leben im Spannungsverhältnis zwischen (christlicher) Tradition, erwartetem Verhalten und Ausbruch aus den sozialen Strukturen. Treffend heißt es im Text: „Das sei ihr Los, das Los ihrer Generation, für die nicht mehr gelte, was für die Vorfahren noch gegolten habe … Kein Versprechen werde eingelöst …“

Fazit: Der mehrfach ausgezeichnete Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker, Jahrgang 1982, erweist sich erneut als meisterlicher, empathischer, genauer Beobachter der sogenannten Provinz. Ähnlich wie der junge Schriftsteller Édouard Louis („Das Ende von Eddy“) für Frankreich beschreibt er sehr treffend Strukturen auf dem Land, soziale Erwartungen bzw. Zwänge sowie in den Menschen schlummernde Abgründe. Kurz: Fremde Seele, dunkler Wald ist ein vielschichtiger, subtiler und höchst nachdenklicher Roman, der in diesen Tagen völlig zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.

Reinhard Kaiser-Mühlecker Fremde Seele, dunkler Wald
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2016.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-10-002428-2.

Rezension vom 30.08.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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