#Roman

Freischnorcheln

Mieze Medusa

// Rezension von Gerald Lind

Nora Klein, freiberufliche Grafikerin, Ich-Erzählerin und Hauptfigur in Mieze Medusas a.k.a. Doris Mitterbachers erstem Roman Freischnorcheln, führt ein Leben zwischen alternativem Bobo-Lebensstil und drohender Pfändung und Delogierung. In kurzen, tagebuchähnlichen Kapiteln erzählt Klein von ihrem täglichen Kampf um das nächste Projekt auf Werkvertragsbasis und die Bezahlung des vorangegangenen.

Die im Zentrum des Romans stehende Darstellung der instabilen Lebenssituation der „unverwechselbare[n] Ich-AG“ (S. 7) Nora Klein ist zwar eine etwas übertriebene Zuspitzung mit dem Ziel der Herauspräparierung eines Modellfalles. Andererseits thematisiert Mieze Medusa damit das Problem der Prekarisierung einer ganzen Generation gut ausgebildeter 20- und 30-Jähriger; und zwar ohne Hysterie, dafür aber mit einer gehörigen Portion Ironie und analytischer Schärfe. Der Roman fügt sich somit in eine Reihe von künstlerischen und aktivistischen Versuchen – wie Hans Weingartners Film „Die fetten Jahre sind vorbei“, die Einführung des MayDays und die Ernennung des Schutzheiligen San Precario – das Prekariat als Massenproblem zu thematisieren. Denn immer noch sehen sich viele Betroffene isoliert, erscheint ihnen ihre berufliche Situation als individuelles Problem, als persönliche Fehlleistung: „Leider bin ich die einzige mit freien Kapazitäten“ (S. 69), stellt Nora Klein einmal fest.

Aber Nora Klein ist mehr als eine repräsentative Figur, ein „Papierwesen“ ohne Persönlichkeit, sondern von Mieze Medusa als individueller Mensch mit Macken und liebenswerten Eigenschaften, üblen und guten Launen, Sehnsüchten und Abneigungen entworfen. Die erwähnte Diagnose sozio-kultureller Verhältnisse wirkt deshalb nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich aus dem Handeln der Ich-Erzählerin und dem von ihr gestifteten und sie umgebenden Beziehungskoordinatensystem, zu dem weiters gehören: Kleins alte Freundin Stephanie, die sich mit einer Reinigungsfirma selbständig gemacht hat; der kauzige Kellner Seb, dem Klein aus Geldmangel einen Teil der Wohnung untervermietet; die schwer durchschaubare Britta, mit der sich Nora – „In meiner Branche gehört variable Sexualität fast schon zum guten Ton.“ (S. 14) – auf ein harmloses Abenteuer einlässt; und schließlich der smarte und nicht mehr ganz junge Geschäftsmann Frank. An Frank übt Nora stellvertretende Rache für die, wenn man so will, ungerechte Verteilung des Kapitals. Nach einem One-Night-Stand lässt sie ihn mit Handschellen ans Bett gefesselt in seinem Hausboot an der Alten Donau zurück, eine größere Summe Bargeld nimmt sie allerdings mit. Mit dieser Entschädigung für einen versprochenen, aber nicht erhaltenen Projektauftrag flüchtet Klein, die Seb noch um Franks Befreiung bittet, „ans Ende der Welt“ (S. 121), in die portugiesische Hafenstadt Sagres.

Nora Kleins Flucht in die Nähe des südwestlichsten Punktes des europäischen Festlandes markiert den Wendepunkt im Leben der Ich-Erzählerin und des Romans. Obwohl von der Angst aufgespürt zu werden geplagt – und Zeitungsüberschriften imaginierend wie „Abfertigung Neu: Arbeitslose Grafikerin überfällt Ex-Chef“ (S. 123) –, beginnt Klein langsam, aber stetig in das Leben an diesem für sie zuerst fremden Ort hineinzugleiten. Ihre „Wut auf die Welt – und vor allem auf mich selbst –“ (S. 144) verraucht, sie verbalisiert ihre Probleme und erzählt dem Surflehrer Mario, „[d]ass nie was klappt und nie genug herausschaut und dass ich müde bin und ausgelaugt und noch nicht einmal dreissig, noch nicht einmal kurz davor.“ (S. 148) Die Vergangenheitsaufarbeitung aus der Ferne bezieht sich auf die im Roman beschriebenen Ereignisse, ohne Rückblenden in einen früheren Lebensabschnitt, Problem und Lösung sind in die erzählte Zeit eingelassen. Als Klein in einem schwachen Moment Frank anruft, erlässt ihr dieser einen Teil der Schulden und schlägt ihr als Entschädigung einen Deal vor: „‚Dafür […] verkaufst du mir deine Vergangenheit. […] Alles, was von dir noch in der Wohnung ist, gehört dann mir. Die Fotos, die Bücher, die Wäsche, auch die dreckige.“ (S. 155f) Mit diesem Schritt ist die letzte Verbindung in das alte Leben abgetrennt, Nora reist nun „mit leichtem Gepäck, fällt mir plötzlich auf, keine Vergangenheit“ (S. 157). Sie beschließt in Sagres zu bleiben und beginnt, „total kitschig“ (S. 162), eine Romanze mit Mario, dem deutschen Surflehrer.

Freischnorcheln ist – hierin ähnlich seiner Hauptfigur – ein sympathischer Roman. Zwar stören einige Ungereimtheiten bei den Zeitangaben oder dass Mario plötzlich Frank genannt wird (S. 151). Insgesamt ist Mieze Medusa aber ein kurzweiliges Debüt gelungen, in dem ohne komplizierte erzähltechnische Kapriolen die Problematik prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Blickpunkt genommen wird. Schade nur, dass der vorgestellte Ausweg aus der Krise – Ausrauben des Chefs und Flucht ans Meer – für den Großteil des Prekariats wohl nicht besonders gangbar ist.

Mieze Medusa Freischnorcheln
Roman.
Wien: Milena, 2008.
166 S.; brosch.
ISBN 978-3-85286-167-8.

Rezension vom 24.09.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.